Die rote Antilope
nicht von seinem Plan erzählen. Er fürchtete, Hallen würde Edvin womöglich verraten, was er vorhatte, oder es ihm verbieten. Daniel fiel es immer noch schwer, sich zu merken, was verboten war. Das war ein Wort, von dem er verstanden hatte, daß es für Menschen wie Hallen, Edvin und Alma zu den wichtigsten zählte. Andere waren: Satan und man darf. Alles, was zwischen Morgengrauen und Abend geschah, wurde davon bestimmt, was man tun durfte und was verboten war. Ohne Schuhe nach draußen zu gehen, wenn der Boden weiß war, gehörte zu dem, was am strengsten verboten war. Außerdem durfte man nicht pinkeln, wo man wollte, besonders nicht, wenn jemand zusah. Für alles gab es Regeln, und Daniel versuchte, sie zu lernen, ohne daß er verstand, wozu.
Sanna würde auch in der Kirche sein. Sie saß ganz hinten, und Daniel wußte, daß Alma ihn mißbilligend ansehen würde, wenn er sich umdrehte und nach hinten schaute. In der Kirche sollte man nach unten oder nach vorn sehen. Nach hinten zu sehen gehörte zu dem, was verboten war.
Daniel bewegte sich unruhig im Heu. Er überlegte, ob Sanna wirklich in die Kirche kommen würde, oder ob der Mann, der sie weggezerrt hatte, sie zu Hause einsperrte. Vielleicht war er wie Vater und band sie fest?
Die Magd klapperte mit den Eimern. Sie sang. Es klang häßlich, aber trotzdem mochte er ihre Stimme. Es kam vor, daß sie lachte und ihm den Kopf tätschelte. Sie war nicht wie die andere Magd, die ihn nie berührte und zurückzuckte, wenn er sie zufällig streifte.
Er erhob sich aus dem Heu. Die Magd war dabei, die letzte Kuh zu melken. Er schlich aus dem Stall. Der Hof war leer. Er lief hinaus auf den Feldweg. Als er sich umdrehte, war er vom Nebel umschlossen. Er versuchte, ihn mit den Händen zu greifen. Dann horchte er. Im Nebel verstärkten sich die Geräusche. Langsam drehte er sich im Kreis und versuchte, den Klang von Trommeln zu erhaschen. Von irgendwoher meinte er ein Raubtier zu hören, das brüllte, oder jemanden, der lachte. Aber wenn er sich in die Richtung bewegte, aus der die Laute kamen, wichen sie zurück.
Er wollte gerade umkehren, als er abrupt innehielt. Auf dem Weg vor ihm lag eine steif gefrorene Schlange. Sie war braun und trug ein Muster auf dem Rücken. Erst dachte er, sie wäre tot. Er wich ein paar Schritte zurück, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Sie rührte sich nicht. Dann wurde ihm klar, daß sie zu kalt war, um sich zu bewegen. Sie war zu früh aus der Erde hochgekommen. Vielleicht hatte sie von der Sonne geträumt, und nachdem sie aufgewacht war, war es ihr nicht mehr gelungen, wieder in den Dämmerschlaf zu fallen.
Es war Vater, der ihm einmal von den Schlangen erzählt hatte. Richtig gefährliche Schlangen gab es nicht in diesem Land. Eine Art war giftig, aber nur selten starb jemand an ihrem Biß. Vaters Beschreibung zufolge mußte es eine solche Schlange sein, die da vor ihm auf dem Weg lag. Er holte einen Stock aus dem Graben und stupste die Schlange damit an. Sie zuckte matt, fing aber nicht an zu peitschen oder sich zu winden. Er versetzte ihr mit dem Stock einen Schlag, aber sie bewegte sich immer noch nicht.
Er dachte an den bevorstehenden Kirchgang.
Rasch faßte er einen Entschluß, rannte durch den Nebel zurück und holte aus dem Stall einen Holzeimer, der nicht gebraucht wurde. Als er wiederkam, lag die Schlange noch genauso da. Vorsichtig beugte er sich hinunter und packte sie hinter dem Kopf. Als er sie hochhob, bewegte sie nur leicht den Körper. Ihre Kälte ließ ihn schaudern, und er steckte sie rasch in den Eimer. Dann lief er wieder zurück. Als er im Stall war, stellte er den Eimer hinter ein paar Schaufeln, die der Knecht zum Ausmisten benutzte. Dann deckte er den Eimer sorgfältig zu, damit die Schlange nicht entwischen konnte, falls sie in der Wärme wieder zum Leben erwachte.
Er ging ins Haus und setzte sich ans Feuer. Alma sah ihn an.
- Du gehst doch nicht ohne Schuhe?
Daniel schüttelte den Kopf.
Edvin streckte sich auf seinem Schemel neben dem Herd.
- Er lernt schnell. Und jetzt ist es Zeit zu gehen.
Hastig sprang Daniel auf und lief in den Stall. Die Schlange war immer noch ganz steif. Er wickelte sie in ein Stück zerfetztes Sackleinen und steckte sie in die Mantelasche.
Als sie bei der Kirche ankamen, war der Nebel noch genauso dicht. Daniel hielt die Schlange in seiner Tasche fest umklammert. Sie rührte sich nicht. Er sah sich nach Sanna um. Schließlich entdeckte er sie. Sie stand hinter dem
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