Die rote Antilope
Mann, der sie an den Haaren gepackt hatte. Auf einer Wange hatte sie einen großen blauen Fleck. Daniel überkam eine heftige Lust, zu dem Mann zu rennen und ihm die Schlange unters Hemd zu stopfen. Vielleicht würde die Schlange gar nicht die Kraft haben, zu beißen und ihr Gift zu verspritzen. Aber der Mann würde auf jeden Fall einen Schrecken bekommen und begreifen, daß es jemanden gab, der bereit war, Sanna zu verteidigen. Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, versuchte Daniel sich Sanna zu nähern. Aber sie zog sich zurück und schüttelte unmerklich den Kopf. Daniel verstand. Sie hatte Angst. Der Mann, der an ihren Haaren gerissen hatte, hielt ihren Arm in einem festen Griff.
Daniel saß zwischen Alma und Edvin. Die Schlange lag immer noch bewegungslos in seiner Tasche. Er überlegte, ob er sich trotz allem getäuscht hätte, ob sie nicht nur steif gefroren war, sondern tot. Aber Schlangen waren kalt. Und er wußte, daß sie ihre Giftzähne in Menschen oder Tiere schlagen konnten, wenn man am wenigsten damit rechnete.
Hallen stieg auf die Kanzel. Er sah Daniel an und lächelte. Daniel schlug den Blick nieder. Dann fing Hallen an, von der Gnade zu reden. Es war ein Wort, das er ständig im Mund führte. Die Gnade und die Sünde. Daniel versuchte zu begreifen, was er sagte, aber die Schlange in seiner Tasche und der Mann mit dem durchlöcherten Knie, der im Vordergrund am Kreuz hing, waren wichtiger. Ihm war klar geworden, daß jemand die Schlange auf den Weg gelegt hatte. Sie war nicht von selber dorthin gekommen. Jemand, der wußte, wo die Schlangen sich verstecken, hatte sie aufgespürt und sie ihm vor die Füße gelegt. Niemand hatte so gut über die Schlupfwinkel der Schlangen Bescheid gewußt wie Be. Meistens war sie es, die sie ausgrub und einfing. Einmal hatte sie eine Schlange angebracht, die mehr als doppelt so lang war wie er. Sie war genauso dick gewesen wie Kikos Arm. Und alle hatten von der Schlange gegessen, sie hatte gereicht, um die ganze Gruppe einen Tag lang zu sättigen.
Be hatte ihm die Schlange hingelegt, und da Sonntag war, konnte es nur bedeuten, daß sie wünschte, er solle sie opfern. In diesem Land aßen die Menschen keine Schlangen. Es blieb nur diese eine Möglichkeit, und er wußte auch, wie er vorgehen würde.
Er sah den Mann an, der unbeweglich am Kreuz hing. Auch er war eine Antilope, die in einer Bewegung erstarrt war. Aber er war nicht im Begriff, einen Sprung zu tun. Er war festgenagelt, und jemand hatte ihm ein Schwert in die Brust gestoßen. Er war im Augenblick des Todes erstarrt, mitten in seinem letzten Atemzug. Während Hallen redete, bemühte sich Daniel noch einmal zu verstehen. Warum hatten diese Menschen einen Gott, den sie an Planken nagelten? Warum behandelten sie ihn wie einen Feind? Warum nahm ihn niemand vom Kreuz ab und kümmerte sich um das beschädigte Knie? Doch er fand keine Antwort.
Hallen hörte auf zu reden und stieg von der Kanzel herab. Alle erhoben sich zum Gebet. Daniel hatte fast den ganzen Text auswendig gelernt. Pfeifend und fauchend begann die Orgel zu spielen. Daniel betastete die Schlange. Bald war der Augenblick gekommen. Alma saß mit geschlossenen Augen da. Vorsichtig zog er die eingewickelte Schlange aus der Tasche und hielt sie unter seine Knie. Gleich würden die beiden Männer, die mit Beuteln an langen Stäben herumgingen, bei ihnen ankommen. Edvin hielt schon eine Münze in der Hand. Als ihm der Stab hingestreckt wurde, ließ Daniel die Schlange rasch in den Beutel fallen. Er tat es so schnell, daß niemand etwas merkte.
Dann spürte er, daß Be ganz nahe bei ihm war. Er schloß die Augen und fühlte ihren warmen Atem an seinem Hals.
Edvin stieß ihn an.
- Ich bin wach, sagte Daniel. Ich glaube an Gott.
In diesem Moment ertönte ein durchdringender Schrei. Hallen, der vorn am Altarring kniete, zuckte zusammen und stand auf. Einer von den Männern mit den Stäben kam den Mittelgang entlanggerannt.
- Im Klingelbeutel liegt eine Kreuzotter, schrie er.
Er streckte Hallen den Klingelbeutel hin. Der Organist hatte aufgehört zu spielen. In der Kirche war es totenstill. Hallen starrte in den Beutel. Der Mann ließ die Stange auf den Boden fallen. Und jetzt war die Schlange nicht mehr steif gefroren. Sie ringelte sich aus dem Beutel, hinaus auf den Steinboden. Der Mann, der geschrien hatte, stand vor der Bank, in der Daniel saß. Er deutete auf ihn und fing wieder an zu schreien.
- Er war es, der sie hineingetan hat,
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