Die rote Halle
oder
Tränen, auf irgendwas Heftiges. Aber DeeDee blieb ganz ruhig.
»Sie liegt immer noch da unten drin.«
DeeDees Hand lag brennend heià auf Simons Stirn.
»Hast du Fieber, Schätzchen?«
Plötzlich war Simon wütend. Er öffnete die Augen, setzte sich auf,
wischte mit einer ärgerlichen Bewegung die Hand von seiner Stirn.
»Du hast jemanden umgebracht, DeeDee.«
»Schschhhh«, machte sie sanft, wie jemand, der einen gefährlichen
Geistesgestörten besänftigen will.
Simon stand auf. »Wir müssen zur Polizei.«
Er wagte nicht stehen zu bleiben, als er sich nach DeeDee umdrehte,
weil er fürchtete, dass er es dann nicht schaffte, noch einmal loszugehen.
»Komm schon.«
DeeDee stützte sich an der Wand ab, als sie aufstand, zog ihr
verletztes Bein nach.
»Warte, nicht so schnell. Du bist ja völlig durch den Wind.«
Simon schnaubte. Ja, klar. Wie sollte er nicht durch den Wind sein.
Wie sollte er je wieder nicht durch den Wind sein. DeeDee schloss zu ihm auf,
hakte sich bei ihm ein.
»Was hältst du davon: Wir gehen jetzt ein bisschen zusammen
spazieren, raus, an die frische Luft«, sagte sie atemlos. »Und dann erzählst du
mir alles ganz genau. Und danach überlegen wir zusammen, was zu tun ist.«
Sie sah Simon eindringlich an, während er weiter vorandrängte. Nur
nicht stehen bleiben.
»So, wie du jetzt drauf bist, bekommst du doch sowieso keine
vernünftige Aussage zustande.«
Was gab es da nachzudenken? Die Sache war doch eindeutig, oder?
»Wir sollten überlegen, bevor wir zur Polizei gehen.«
DeeDee hing mit ihrem verletzten Bein wie ein Klotz an Simons Arm,
und am liebsten hätte er sie einfach von sich gestoÃen, um besser
voranzukommen.
»Wir wollen doch nicht, dass deine Mutter Ãrger bekommt, weil sie
nicht ⦠ich meine, du bist ja noch minderjährig, oder?«
Simon verlangsamte seine Schritte. Nein, das wollte er natürlich
nicht.
»Na gut, in Ordnung. Einen Spaziergang. Und dann zur Polizei.
Abgemacht?«
DeeDee nickte. »Abgemacht.«
Während sie neben Simon die Treppen hinabhumpelte und sie zusammen
das Bettenhaus verlieÃen, drückte DeeDee seinen Arm und lächelte ihm
aufmunternd zu.
Simon wunderte sich, woher sie die Kraft dazu nahm. Er hatte Rose
zwar gefunden, aber DeeDee war es gewesen, die sie in den Tod geschickt hatte.
Wie konnte sie so ruhig sein? So zuversichtlich? Oder war es Gleichgültigkeit?
Dann wusste er, was es war, und er blieb stehen.
»Du glaubst mir nicht, oder?«
DeeDee antwortete nicht.
»Du kannst dich selbst überzeugen. Du kannst selbst da
reinkriechen!«
DeeDee schüttelte bestimmt den Kopf.
»Wenn da unten eine Leiche liegt, dann dürfen wir nichts verändern.
Wer weiÃ, wie viele Spuren du schon hinterlassen hast.«
Obwohl Simon die Antwort nicht gefiel, musste er zugeben, dass sie
recht hatte. Genau genommen sah es jetzt vielleicht so aus, als ob er Rose da
drinnen selbst ⦠nein. So etwas würde die Spurensicherung oder wer auch immer
das machte, feststellen, dass er sie nicht ⦠dass sie da einfach irgendwie
hängen geblieben war. Dass es ein Unfall war. Fahrlässige Tötung, oder so.
Als sie den Flughafen verlieÃen, wandte DeeDee sich nach rechts, und
Simon folgte ihr. Sie gingen über die Ampel am Columbiadamm.
»Wir dürfen auf jeden Fall niemandem sagen, dass wir ein Paar sind,
hörst du, Simon?«
Simon war irritiert. Wieso ein Paar?
»WeiÃt du, Erwachsene denken, dass Kinder von Natur aus unschuldig
sind. Ich glaube da nicht dran«, sagte DeeDee, während sie an den strengen
Backsteingebäuden der Polizei entlanggingen. Simon wusste, dass hinter den
hohen Mauern Mannschaftswagen auf ihren Einsatz warteten, dreiÃig oder mehr. Er
hatte sie vom Teeküchenfenster aus gesehen.
»Es geschehen Dinge, durch die man irgendwann zwangsläufig die
Unschuld verliert. Und dann kann man sie nicht mehr zurückbekommen.«
Simon nickte. Ja, das war genau das, was er empfand. Etwas war weg,
für immer, und was blieb, war ein riesiges Loch aus Bedauern und Sehnsucht nach
irgendetwas, das ihm schon jetzt so fremd war, als sei es hundert Jahre her.
Als ein neuer Schwall Tränen in ihm aufstieg, lieà Simon sie einfach laufen.
DeeDee wühlte in ihrer Handtasche und fand ein Taschentuch, das sie
ihm reichte, und Simon wünschte sich, dass es
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