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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Schmidt
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Nase, das Süßliche, das
sie schon gestern gerochen und nicht hatte einordnen können. Was gestern nur
unterschwellig wahrnehmbar gewesen war, wurde plötzlich überdeutlich.
    Sommerferien, Simon war sieben gewesen, und als sie wiedergekommen
waren und Janina die Garage aufgeschlossen hatte, hätte sie sich beinahe
übergeben. Innen vor dem Tor hatte eine Katze gelegen. Sie mussten sie eingeschlossen
haben, als sie weggefahren waren. Sie hatten das Tier im Garten vergraben, aber
der Geruch hatte noch wochenlang in der Garage gehangen.
    Janina versuchte, möglichst flach zu atmen, als sie die
Schalterhalle betrat. Der Geruch war unverkennbar. Eine tote Ratte, oder ein
Vogel. Nur ein Tier, wie damals, sagte sie sich.
    Sie fand eine Reihe Lichtschalter, und auf Knopfdruck lag die Halle
in einer Mischung aus altem, gelbem Glühbirnenlicht und Neonröhren. Janina
blickte nacheinander in die Abfertigungsschalter. Alles weiß und grau und leer.
Dann die verglasten Büros auf der Galerie. Hier wurde der Geruch schwächer.
Hinter dem Milchglas nichts als verlassene Arbeitsplätze. Unten ging sie die
Wände der Halle gründlich ab. Es gab einige verschlossene Türen, zu denen sie
Schlüssel fand. Auch hier nur leere Büros, leere Regale, leere Verkaufsflächen.
Nichts. Nur der Geruch blieb. Im hinteren Teil der Halle stärker, vorne
schwächer. Die Quelle musste also hinten sein. Aber hier gab es nichts als den
Durchgang zum Transit und die Treppen nach oben zum Flughafenrestaurant, in dem
es außer poliertem Parkett ebenfalls nichts gab. Janina ging wieder hinunter,
schloss eine der Türen zum Transit auf. Der Geruch wurde schwächer.
    Aber in der Halle war nichts. Gar nichts. Nur nacktes Linoleum, grau
und kühl, über ihr hingen zwei kleine Flugmaschinen, eine grau, eine leuchtend
rot. Links und rechts Türen in Flure und Treppenhäuser.
    Janina setzte sich auf das Gepäckförderband, der Geruch hüllte sie
ein. Und ohne weiter nachdenken zu müssen, wusste sie es. Sie wusste, wohin sie
musste. Und sie wusste, was sie erwartete, mit absoluter Gewissheit.
    In dem Moment, in dem sie innerlich vollkommen taub wurde, setzte
sie sich in Bewegung, auf allen vieren kroch sie das Gepäckband hinab. Als sie
die Gummilamellen beiseiteschob, schwoll der Gestank zu einer physischen Gewalt
an, wollte sie zurückdrängen, sie abweisen. Aber sie ließ sich nicht abweisen.
    Janina kroch weiter, kroch in die Enge und über die Rollen, die
unter dem Förderband in ihre Knie und Hände drückten, sie schob sich nach
rechts, wand sich um enge Kurven, es ging tiefer hinab, tiefer, und es war
absolut finster. Pechschwarz, und um sie herum Monster, die sie nicht sehen
konnte.
    Dennoch fühlte Janina nichts, keine Angst, keine Gedanken mehr. Es
gab nur den Gestank und das Gummi unter ihren Händen und die Struktur darunter,
und das Schwarz, das gegen ihren Leib andrängte und ihn zusammenzupressen
schien wie ein enger werdender Schlauch, als sei sie im Leib einer Schlange und
werde von den ringförmigen Muskeln immer weiter hinabgedrückt, hinab in den
Verdauungstrakt, wo Mäuse über Wochen zersetzt wurden, und je weiter sie
vorangeschoben wurde, desto weniger war sie am Leben.
    Und dann stieß sie gegen etwas Hartes, Raues.
    Und darauf etwas Weiches, nicht ganz Trockenes.
    Und der Gestank flutete in sie ein wie eine schlammige Welle, die
ihr Mund und Nase füllte und sie erstickte, die ihr in den Hals hinablief, den
Magen füllte, bis es oben wieder herauslief und sie sich übergeben musste.
Janinas Hand ertastete ein Bein. Sie war sich sicher, dass es ein Bein war.
    Sie bewegte sich nicht, sie schrie nicht.
    Sie schrie erst, als in ihrer Hosentasche das Handy zu vibrieren
begann und ihr aus der Tasche rutschte und das Licht des Displays über die
silbrigen Wände des Schachts tanzte, während es weiter zitternd und klagend
über das Förderband kroch.
    Im Licht des Displays erkannte Janina Frauenbeine in
Feinstrumpfhosen, die sich mit der Haut zu verbinden begannen. Den Beinen
folgte der Leib und ein weit nach links gebeugter Hals, ein gebrochener Hals,
der über die Kante eines Koffers hing, und offene Augen und ein offen stehender
Mund in einem Kopf, der sich in einer Abzweigung festgeklemmt hatte. Es war
Rose, die rücklings auf ihrem quergestellten Koffer lag.
    Dann hörte das Handy auf zu klingeln.
    Das Display erlosch,

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