Die Rote Spur Des Zorns
Frage auszudenken. Was glaubst du hier wohl zu finden?, war die einzige, die ihr einfiel. Russ’ Stimme, sein Gesicht gestern Abend schienen fest in ihrem Bewusstsein verankert. Ihre Version der Wahrheit. Vielleicht hatte er ja Recht. Vielleicht wollte sie, dass er Recht hatte.
»Hören Sie«, sagte Ray, als er sie einholte, und stieß ein entnervtes Seufzen aus, das sie geflissentlich überhörte. »Meinetwegen, ich führ Sie rum. Aber Sie müssen den vorgeschriebenen Helm tragen. Also bleiben Sie einfach hier, okay? Ich besorge Ihnen einen.«
»Ganz wie Sie wollen.«
Er lief zurück zum Wohnwagen, riss die Tür auf und erschien ein paar Sekunden später mit einem orangefarbenen Schutzhelm, den sie pflichtgemäß aufsetzte und unter dem Kinn festzurrte. Durch das Ding wurde ihr noch wärmer, aber es war nicht so schlimm wie mit einem Pilotenhelm auf einem asphaltierten Flugfeld; sie konnte also nicht klagen. Dann machte Ray mit ihr die versprochene Führung.
Viel Sehenswertes war nicht da; ein Haufen halb fertiger Fundamente und Gräben, in denen Rohre lagen. Ray zeigte mit dem Finger dorthin, wo einmal das Hauptgebäude, die Gästeflügel und der Fitnessklub sein würden, und während er den Grundriss der Anlage beschrieb, versuchte sich Clare die Gärten und Grünflächen vorzustellen; aber es fiel schwer, irgendetwas außer dem brutalen Kahlschlag zu sehen. Ray war ein Zahlennarr; sie hörte von Tonnen Zement, Hektolitern Abwasser, Metern von Leitungsrohren, Kubikmetern von Bauvolumen. Sie hörte zu, gab passende Kommentare ab, wartete aber die ganze Zeit, dass sie irgendwie mehr über Bill Ingraham erfahren würde. Der Impuls, weshalb sie sich auf Peggy Landry gestürzt hatte, um Ingrahams letztes Projekt in dieser Welt kennen zu lernen – vielleicht die beste Gelegenheit dazu –, diesen Impuls analysierte sie tunlichst nicht näher. Wenn sie zu intensiv darüber nachdachte, dann erschienen ihre Impulse immer ein bisschen töricht. Besser, man handelte aus dem Bauch heraus – aus dem Unbewussten oder was auch immer – und ließ die Dinge auf sich zukommen.
Ray erläuterte gerade das Zu-und Abfluss-System des Whirlpools, da fiel Clare auf, dass sie ja eines gar nicht gesehen hatte. »Wo ist denn das Freischwimmbecken?«, fragte sie. »Ich meine, es soll doch nicht bloß Warmwasserpools geben, oder? An einem Tag wie heute möchte man doch draußen sein, Sonne tanken.«
Ray deutete auf eine der Schneisen im Wald. »Da entlang.« Sie stiegen eine Erdrampe hoch, die eine Terrasse mit der nächsten verband, und traten aus der Hitze in den kühlen Schatten der Bäume. »Das Freischwimmbecken wird etwas ganz Besonderes. Bill möchte es im alten Steinbruch anlegen. Wer im Sommer hierher kommt, der wird sich an den Badeteich seiner Kindheit erinnert fühlen« – er grinste sie an – »nur dass es an dem Teich kein Geländer gab.« Der Weg – zwei kahle Spurrinnen zwischen verwildertem Gras und zartstieligen Feldblumen – beschrieb eine Kurve und führte leicht bergab. »Und das Beste daran: Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Im Moment dient uns der Steinbruch als Zementwerk; außerdem bekommen wir sämtliches Material für Pflasterung und Wände von dort. Wir heben also einfach durch unsere Arbeit das Schwimmbecken aus. Wenn wir nichts mehr brauchen, wird das Loch auszementiert, gefliest und schon haben wir einen Badeteich – fast wie echt, nur besser.«
»Hatte Mr. Ingraham« – sie biss sich auf die Zunge – »hat Mr. Ingraham denn keine Bedenken wegen dem PCB? Ich nehme an, das ist doch derselbe Steinbruch, der in den Siebzigern als Deponie benutzt wurde.«
Der Weg öffnete sich auf eine atemberaubende Aussicht. Sie waren jetzt am oberen Ende des Steinbruchs, auf einer Seite einer kurvenförmigen hellen Felswand, die steil nach unten zu dem Arbeitsgelände abfiel. Am tiefsten Punkt bildete sie eine Schräge, zerfurcht von Rissen und Kanten und überall mit zählebigen Gewächsen durchsetzt. In der Mitte der Felswand klaffte ein Spalt, und zu ihrem Entzücken sah Clare einen dünnen Wasserfall daraus hervorsprudeln, der in ein breites, dunkles Becken floss. »Wasser aus dem Felsen«, sagte sie und grinste Ray an. »Sehr biblisch. Wird damit einmal das Schwimmbecken gefüllt?«
»Nein. Der Bach da kommt aus dem Berg und ist zu unzuverlässig. Als wir anfingen, war er so stark, dass man besser nicht zu nah rangegangen ist, aber Ende Juli bleibt nur noch ’ne Pfütze davon übrig. Außerdem
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