Die Rote Spur Des Zorns
längst noch nicht alles erfasst.«
Dr. Scheeler unterbrach. »Meine Herren, das überschreitet bei weitem meine Zuständigkeit. Ich würde Ihnen jetzt gern gute Nacht sagen. Chief Van Alstyne, mein Bericht wird Ihnen so bald wie möglich zugehen.«
»Danke, Doc. Und vielen Dank auch, dass Sie so kurzfristig zur Verfügung standen. Normalerweise ist bei uns nicht so viel los.«
Die Zähne des Pathologen strahlten in der Dunkelheit. »Schon in Ordnung. Meine Patienten beklagen sich nie.« Seine Wagentür schlug hinter ihm zu, und er stieß rückwärts aus der Parklücke. Als er wegfuhr, konnte Russ Faith Hill hören, der im Radio etwas über »breath« lamentierte.
Russ drehte sich wieder MacAuley zu. »Ich möchte, dass Noble weiter nach jedem von Chris Dessaints Bekannten forscht. Ich möchte wissen, mit wem er zusammen war, was ihm Spaß machte und ob er McKinley und Colvin vielleicht für seine Zwecke benutzt hat. Morgen früh gehen wir gleich noch mal in seine Wohnung und nehmen sie auseinander. Unter Umständen finden wir doch etwas, das uns diesen Fall abzuschließen erlaubt.«
»Besonders hoffnungsvoll hören Sie sich nicht an.«
Russ seufzte. Er setzte seine Brille ab und suchte einen trockenen, sauberen Fleck an seinem Hemd, um sie zu putzen. »Läuft die Fahndung nach Jason Colvin noch?«
»Ja.«
»Dann bringen Sie die Daten auf den neusten Stand. Sagen Sie allen, der gesuchte Verdächtige könnte schon tot sein.«
21
E ine Viertelstunde nachdem sie mit Robert Corlews Boot im Yachthafen abgelegt hatten, verstand Clare – verstand sie wirklich –, warum jemand freiwillig einen barbarischen Winter nach dem anderen im Norden des Staates New York verbrachte. Per Motorantrieb, aber mit geblähtem Großsegel, waren sie an den Docks vorbei zu irgendeinem nicht gekennzeichneten Punkt gefahren, wo Corlew vom Wind abdrehte, die Backspiere ausschwang und ihr und Terry Wright den Befehl gab, das Vorsegel zu setzen. Daraufhin schnellte das zweiundvierzig Fuß lange Boot vorwärts wie ein Vollblüter am Start der Rennbahn von Saratoga. Clare klammerte sich mit einer Hand an den Mast, während das Schiff unter den weichen Sohlen ihrer alten Ked-Turnschuhe schaukelte. Vor der strahlenden Sonne durch den rot-weißen Bogen des Klüvers halb geschützt, sah sie über die scheinbar endlose Weite des Sees vor sich. Seine Fluten, im Winter eine abschreckende schwarze Platte, waren jetzt blau und tanzten. Überall ringsum blitzten tausend Funken von Gischt und Sonnenschein, und am Ufer erhoben sich hier rauchblau, dort saftig grün die Berge. Es war wie im Märchen. Clare rechnete schon halb damit, die weißen Türme eines Schlosses aus dem Wald aufragen zu sehen.
»Ich glaube, irgendwo da drüben ist der Vergnügungspark Story Land.« Terry Wright wies in Richtung des gegenüberliegenden Ufers, wo, eingebettet zwischen Bäumen, ein Gewirr von leuchtenden Dächern zu sehen war. Der beleibte Bankier ließ sich auf das Deck hinab, stützte seine Füße an den schmalen Rand unterhalb der Reling und setzte sich. Clare tat das Gleiche.
»Gerade habe ich mir gedacht: Es sieht aus, als müsste dort ein Schloss stehen.«
»Tut es auch. Fort Ticonderoga an der Spitze des Sees, wo er in den Lake Champlain mündet. Und hinter uns Fort William Henry. Zwischen Franzosen und Indianern, Briten und Kolonialsiedlern heiß umkämpft. Die Gegend hier hieß im achtzehnten Jahrhundert ›der Schlüssel zum Kontinent‹. Im Lauf der Geschichte ist viel Blut in diesen See geflossen.« Sein pausbäckiges, sonnenverbranntes Gesicht hinter dem mächtigen Schnauzbart verzog sich zu einem Schmunzeln. »Was übrigens nicht bedeuten soll, dass das auch heute geschehen wird.«
Clare lachte. »Es ist nur recht und billig, dass Sie mich warnen.« Sie lehnte sich auf ihre Ellbogen zurück, schloss die Augen und ließ sich von der Sonne wärmen. »Im Moment ist es kaum vorstellbar, dass es hier Kriege gab. Ich fühle mich wie im Himmel.«
»Auch um den wurde schon Krieg geführt, nicht wahr? Und schauen Sie sich mal um. Diese Touristenflut, genauso stark wie der See. Nur dass der Himmel natürlich nicht zwischen Oktober und Mai Urlaub macht. Will ich jedenfalls hoffen.« Er lachte. Terrys ansteckendes Lachen hatte ihm den Ruf eines Witzbolds eingebracht, denn es ließ seine Zuhörer einstimmen, selbst wenn sein Äußerungen nicht besonders witzig waren.
»Was haben Sie beide denn da zu lachen?« Mrs. Marshalls Stimme durchschnitt das Rauschen von
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