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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Wasser und Wind. »Kommen Sie zu uns runter. Robert schenkt gerade ein.«
    Clare folgte Terry den Rand des Decks entlang, um sich dann neben ihm auf die gut gepolsterte Bank im Cockpit fallen zu lassen. Mrs. Marshall und Sterling Sumner saßen auf der Bank gegenüber, wo Sterling mit einer Hand das Steuer hielt. Sein Schal bestand, wohl mit gebührender Rücksicht auf das sechsundzwanzig Grad warme Wetter, aus kess gestreifter Seide statt aus Wolle, und eines der langen Enden flatterte im Wind.
    Als Clare auf ihrem prall gepolsterten Platz landete, lehnte sich Robert Corlew aus der Kajütenluke. Seine breiten Schultern füllten die Öffnung fast aus. Der Bauunternehmer besaß einen außergewöhnlich dichten Haarschopf mit einem verdächtig abrupten Haarsansatz. Clare hatte gehofft, sie könne vielleicht eindeutig feststellen, ob es sich um eine »Zweitfrisur« handelte, aber Corlew trug eine ins Gesicht gezogene Kapitänsmütze, die alles unter sich verbarg. Er gab Mrs. Marshall zwei hohe Gläser zum Weiterreichen. »Lacey, Gin-Tonic für Sie und für Sterling.« Er wandte seine Aufmerksamkeit der anderen Bank zu. »Reverend Clare, Terry, welches Gift darf es für Sie sein?«
    »Bier«, antwortete Terry. »Wenn ich nicht im Training bleibe, dann verschwindet womöglich dieser Bauch.« Er lachte erneut.
    »Für mich das Gleiche«, sagte Clare. Corlew tauchte ab und erschien einen Moment später mit zwei eiskalten, schäumenden Flaschen. Die eine davon reichte Clare an Terry Wright weiter; die eigene trank sie auf einen Zug fast leer. »Mann, diese Sonne macht durstig«, sagte sie beim Absetzen ihres Biers.
    Mrs. Marshall starrte sie mit der gleichen Miene an wie Oma Fergusson, als sie sie beim Wettrülpsen mit ihren Cousins erwischt hatte. Zu spät bemerkte Clare die zwei Gläser in Corlews anderer Hand. Eins davon gab er kommentarlos an Terry, der sich das Bier einschenkte. Das andere bot er ihr an.
    »Außer, Sie möchten lieber …« Aus der Flasche saufen, beendete Clare im Geiste seinen Satz. Sie lächelte schwach, nahm das Glas, schenkte ein, wie es sich gehörte, und gab Corlew die Flasche zurück.
    Ich bin fünfunddreißig, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich bin das geistliche Oberhaupt dieser Menschen. Ich werde mich nicht davon einschüchtern lassen, dass sie meine Eltern sein könnten. Sie sah kurz zu Mrs. Marshall. Oder meine Großeltern.
    Robert stieg mit seinem Bier – in einem Glas – aus der Luke und glitt hinter dem großen Steuerrad vorbei, um auf der Hecktruhe Platz zu nehmen. »Zum Wohl, die Herrschaften«, sagte er und erhob sein Glas.
    »Zum Wohl!«, antworteten sie im Chor.
    Clare drehte sich auf ihrer Bank zu dem vorbeiziehenden Ufer um. Eine Landungsbrücke voller Spielsalons, T-Shirt-Läden und wackligen Wurstbuden ragte dort ins Wasser. Ein Mann mit rotem Kopf, rotem Bart und Brille versuchte gerade zu verhindern, dass zwei schmächtige Kinder über das Geländer fielen, die Zuckerwattebäusche, größer als ihre Köpfe, hielten und mit der freien Hand aus Leibeskräften dem Boot winkten. Clare winkte zurück. Dann wandte sie sich, unerklärlicherweise voller Freude, wieder ihren Bordkameraden zu. Der Tag war zu schön für schlechte Stimmung, und bei diesem Gedanken kam ihr eine zweite Erkenntnis. Durch den langen, harten Winter schätzte sie den Sommer wie noch nie; die Sonne, der klare blaue Himmel, das frische, üppige Grün waren Gaben, für die sie dem Herrn jeden Tag neu dankte, denn schon ein einziger Wimpernschlag, der Schlag eines Herzens, konnten sie zum Verschwinden bringen. Der Winter war hier die Regel, der Sommer nur eine kurze, herrliche Atempause. Diese Feststellung, fand sie, solle ihr eigentlich eine konkrete geistige Erleuchtung schenken, aber sie dachte nur eines: dass sie jetzt verstand, warum niemand zum Sonntagsgottesdienst kam.
    »Sie wirken so nachdenklich, Ms. Fergusson.« Die elegante, silberhaarige Mrs. Marshall konnte sich nie durchringen, Clare entweder mit Vornamen oder mit »Reverend Fergusson« anzusprechen. Was Clare ihr nicht übelnahm. Sie hatte beim Aufwachsen selbst Oma Fergussons Lehre verinnerlicht, dass »Reverend« kein Titel sei, sondern ein Attribut. Ihre Großmutter wäre eher ohne Hut in die Kirche gegangen, als einen Priester mit »Reverend« anzureden. Aber natürlich waren Oma Fergussons Priester alle Männer gewesen, und auch die Bezeichnung »Vater« würde Clare sich mit Sicherheit nicht zulegen. Entweder müsste sie ihren Doktor in

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