Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman
Zustandekommen des Zeitungsartikels erkläre, aber immer, wenn ich sie ansah, fand ich, dass die Stille zwischen uns so viele schöne Dinge sagte, dass ich sie nicht brechen wollte. Eine Viertelstunde lang gingen wir schweigend, dann blieb Maria stehen und sagte:
»Hier ist es.«
Es war ein imposantes altes Steinhaus mit einem Aufzug. Maria wohnte im Dachgeschoss, wollte den Aufzug aber nicht benutzen, weshalb wir unser Gepäck alle fünf Etagen hinaufschleppen mussten. Ganz oben gab es zwei Wohnungen, eine kleine auf derlinken Seite und eine andere direkt gegenüber. Maria suchte den Schlüssel, als die Tür zu der kleineren Wohnung aufging.
»Meine liebe Maria, da bist du ja endlich!«
Es war eine Frau in den Vierzigern. Sie war groß und gutaussehend, blass, aber mit dunklem Teint. Sie ging zu Maria und umarmte sie innig.
»Mein liebes Kind, ich bin so froh, dich zu sehen. Du bist ja sogar noch schöner als früher. Lass dich anschauen! All die Briefe und kein Foto. Ist sie nicht wundervoll?«
»Michael, darf ich dir Judith, meine Ziehmutter, vorstellen?«
Judith schaute mir tief in die Augen und ließ dann ihren Blick über meinen Körper wandern.
»Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich habe das Foto von dir in der Zeitung gesehen und den Artikel gelesen. Was für ein Unsinn! Du wirst doch wohl nicht gesucht?«
»Gehen wir rein«, sagte Maria.
Die Wohnung war geräumig, mit schlichten, geschmackvollen Möbeln und schöner Aussicht über die Stadt. Maria zeigte mir ihr Zimmer, das sich, seit sie vierzehn war, nicht verändert hatte. Dennoch hatte es nichts Kindliches. Sie bezog mir das Bett im Zimmer ihres Vaters. Judith kochte Kaffee, holte eine Flasche Cognac aus ihrer Wohnung und zündete den Kamin an. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Dann wollte sie hören, was wir erlebt hatten. Maria erzählte ihr von allem, außer von ihrem Spiegeltrick. Judith hatte sich umgezogen, trug jetzt ein knielanges Kleid mit einem Rosenmuster und hatte dunkelroten Lippenstift aufgelegt. Sie leerte ihr Cognacglas und schenkte nach, obwohl Maria und ich bisher nur an unseren Gläsern genippt hatten.
»Ihr seid also
Michaels und Marias Zirkus
. Braucht ihr nicht noch eine dritte Person? Ich denke oft, ich wäre die geborene Artistin.Als ich klein war, bin ich oft alleine in den Zirkus gegangen und habe immer gespannt auf die Akrobaten gewartet. Die Frau war groß und majestätisch. Sie schaukelte gegenüber einem muskulösen, behaarten Mann, ihr Augenkontakt schien stärker zu sein als die Trapeze, an denen sie hingen, die Spannung stieg, bis sich die Frau in wilder Ekstase in die Luft warf, sich unzählige Male drehte, und als nur noch der Abgrund unter ihr lag, wurde sie genau im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle von starken Händen gepackt und zu einem gestählten Körper hinaufgezogen. Ich ging immer wieder hin, um zu sehen, ob die starken Hände irgendwann einmal versagen würden, aber das passierte nie. Sie waren immer da, oben in der Luft. Wenn eine Frau mutig genug ist, sich ins Ungewisse zu stürzen, wird sie immer von starken Händen aufgefangen, nicht wahr, Maria?«
Maria wirkte abwesend und müde, lächelte aber und sah mich an.
»Wir stellen uns ein Wunder als etwas vor, das jenseits von Zeit und Raum geschieht«, sagte ich, »und sehnen uns danach, sind aber in Zeit und Raum gefangen. Nichts geschieht von sich aus, alles geschieht in Zeit und Raum. Diese nicht steuerbaren Phänomene entstehen zwischen den Dingen, die Zeit verwischt süße Erinnerungen, zwischen Liebenden bildet sich Distanz. Zeit und Raum sind die Gefolgsleute des Todes. Der Zirkus ist ein Kampf gegen diese Gefolgsleute des Todes. Der Zirkus ist eine Analogie zum Motor des Universums, Ewigkeit scheint zu herrschen, und sämtliche Wunder scheinen möglich zu sein. Die Welt befindet sich auf einer kleinen, runden Bühne unter einem weißen Zeltdach, und der zeitliche Ablauf aller Dinge ist so präzise, dass die Zeit besiegt zu sein scheint. Wir lachen, um zu vergessen, aber dahinter verbirgt sich Angst, das Herz weiß, dass jeder Schlag der letzte sein kann, weiß, dass jeder angestrahlteMoment des Wunders eine Schattenseite hat, die nächste Sekunde ist schwarz, und ohne starke Hände fällst du, und nichts ist mehr so mächtig, dass es dich auffangen kann. Die zeitlose Utopie entpuppt sich lediglich als Frage des richtigen Orts und der richtigen Zeit. Wir schmiegen uns an das wohlige Gefühl der Ewigkeit und der Wunder, und
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