Die Rückkehr der Templerin
selbst über den Ölberg gekommen war, als er nach Jerusalem einzog. Seltsam, dachte sie. Sie hatte geglaubt, sich spätestens während des Grauens der Schlacht endgültig von ihrem Glauben losgesagt zu haben, und doch dachte sie jetzt mehr an Gott und seinen Sohn als in all den Monaten zuvor. Vielleicht hatte sie sich ja gar nicht von Gott losgesagt, sondern nur von dem, was Menschen in seinem Namen taten.
»Eine wunderschöne Stadt, nicht wahr?«, fragte Nemeth. Sie war lautlos neben sie getreten, und auch in ihrer Stimme meinte Robin etwas zu hören, das weit über das Maß normalen kindlichen Staunens hinausging. »Ich wusste gar nicht, dass es so große Städte gibt. Hier müssen mehr Menschen leben als in einem ganzen Land!«
»Es gibt noch sehr viel größere Städte«, antwortete Robin.
»Ich habe ein paar davon mit eigenen Augen gesehen. Aber Jerusalem ist schon etwas Besonderes. Es ist die heiligste Stadt der Christenheit.«
»Die heiligste Stadt der Christenheit«, wiederholte Nemeth in sonderbar nachdenklichem Ton. Sie runzelte die Stirn. »Warum liegt sie dann in unserem Land?«
Robin sah sie verstört an.
»Habt Ihr sie schon gesehen, Herrin?«, fuhr Nemeth ungerührt fort. »Ich meine: Wart Ihr schon draußen in der Stadt?«
Robins Gesicht verdüsterte sich. »Du weißt genau, dass Salim und Bruder Abbé mich hier gefangen halten. Findest du es gut, dich auch noch über mich lustig zu machen?«
»Das wollte ich nicht, Herrin«, antwortete Nemeth mit einem breiten Grinsen, das so ungefähr das genaue Gegenteil behauptete. »Ich frage mich ja nur, ob Ihr sie sehen wollt . «
»Salim hat Wachen vor jede Tür aufgestellt«, grollte Robin.
»Und wie ich ihn kenne, schleichen seine Spione durch die ganze Stadt, nur für den Fall, dass ich trotzdem hier herauskäme.«
»Er kennt Euch eben«, feixte Nemeth.
Robin seufzte tief. »Das hier ist ein Assassinenhaus, Nemeth.
Es führt kein Weg hinaus.«
Nemeth schwieg. Aber sie tat es auf eine ganz bestimmte Art, die dazu führte, dass Robin sich nach einem weiteren Moment vom Anblick der Stadt draußen vor dem Fenster losriss und sie stirnrunzelnd ansah.
»Oder?«, fragte sie.
Nemeth schwieg beharrlich weiter, aber ihre Augen blitzten schelmisch.
»Du kennst einen Weg hier hinaus?«, fragte Robin.
»Meine Mutter hat mich zu Euch geschickt, Herrin«, sagte Nemeth, ohne ihre Frage zu beantworten. »Sie wird den ganzen Tag fortbleiben. Salim hat sie mitgenommen, damit sie ihm hilft. Sein Vater kommt wohl mit einem großen Gefolge, und es sind eine Menge Vorbereitungen zu treffen.« Sie warf Robin einen schrägen Blick zu. »Sie werden den ganzen Tag fortbleiben, bestimmt bis Sonnenuntergang, wenn nicht länger.«
»Und was genau willst du mir damit sagen?«, fragte Robin.
»Ich?« Nemeth riss in gespielter Empörung die Augen auf.
»Aber ich würde doch nie …«
»Wir müssten zurück sein, bevor Salim wieder hier ist«, fuhr Robin nachdenklich fort. »Und was ist, wenn jemand hereinkommt und sieht, dass ich nicht mehr da bin?«
»Wer außer mir, meiner Mutter und Salim war denn bisher hier in Eurem Zimmer?«, fragte Nemeth.
Niemand, pflichtete ihr Robin in Gedanken bei. Der Grund, aus dem Salim sie hier in diesem Haus untergebracht hatte, war ja eben der, dass niemand außer ihm selbst und Saila und ihrer Tochter sie zu Gesicht bekam. Vielleicht, überlegte sie, war das auch der Grund, aus dem er ihr nicht gestattet hatte, auch nur dieses Zimmer zu verlassen. Wie Bruder Abbé vor ein paar Tagen gesagt hatte: Ein Geheimnis war umso besser gewahrt, je weniger um seine Existenz wussten.
Sie drehte sich wieder zum Fenster. Natürlich war schon die bloße Idee verrückt, aber auf der anderen Seite … sie würde Jerusalem in wenigen Tagen verlassen, um zusammen mit Salim und seinem Vater zum Berg Masyaf zurückkehren, und irgendetwas sagte ihr, dass sie vielleicht nie wieder hierher kommen würde. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie eines Tages ihren Enkelkindern davon erzählen würde. Oh, aber si cher war ich in Jerusalem. Eine ganze Woche. Natürlich habe ich die Stadt gesehen. Einen Ausschnitt von zwei Fuß Breite und vier Fuß H öhe. Eine wunderbare Vorstellung.
»Ich bräuchte … ein anderes Kleid«, sagte sie zögernd. »So kann ich schlecht auf die Straße gehen.«
»Nicht, ohne aufzufallen«, bestätigte Nemeth. »Ihr habt fast dieselbe Statur wie meine Mutter. Ich glaube, eines von ihren Kleidern müsste Euch passen.« Sie trat
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