Die Rückkehr der Zehnten
immer noch ungerührt ihren ewigen Muränentanz. Und sie selbst war unversehrt, obwohl das verbeulte Kettenhemd nicht verhindert hatte, dass sie durch die Wucht des Schlages das Bewusstsein verloren hatte. Baschirs Ermahnung, das Kettenhemd um jeden Preis zu tragen, kam ihr in den Sinn und ließ sie lächeln. Mit Mokoschs Hilfe richtete sie sich halb auf. Tschurs Speer rollte von ihr weg und blieb am Rand des Mosaiks schaukelnd liegen. »Wo ist Wit?«, flüsterte sie. »Hat Niam ihn umgebracht?«
Die Fürstentochter schüttelte kraftlos den Kopf. »Er hätte es getan, wenn nicht in diesem Moment die Sarazenen auf den Palasthof gestürmt wären«, sagte sie. »Nein, zumindest meinem Bruder Wit ist nichts passiert. Aber Niam und die anderen Priester sind in die Stadt entkommen und haben sich in die Gassen und Verstecke geflüchtet. Es gibt immer noch genug Antjaner, die ihnen Unterschlupf gewähren.«
Lis war verwundert, wie ruhig und gefasst die Stimme der Fürstentochter klang.
»Die Sarazenen suchen die Priester«, fuhr Mokosch fort. »Intisar hat gesagt, ich soll bei dir bleiben. Erst dachten wir, du seist tot.« Ein kleines, schmerzliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber du lebst. Wenigstens du.«
Lis nahm ihre Hand, denn sie wusste, wie sehr Mokosch trauerte. Trotzdem hatten sie keine Zeit, jetzt die Toten zu beklagen. »Wir müssen zum Turm«, flüsterte Lis. »Zumindest deinen Kurier können wir retten – und Levin.«
»Levin?«
»Nenn ihn Karjan, wenn du willst.«
Ächzend setzte sie sich weiter auf und versuchte das Schwindelgefühl und die tanzenden Lichtpunkte in ihrem Blickfeld zu ignorieren. Die verbogenen Metallglieder des Kettenhemdes kratzten an ihrem Brustbein.
Behutsam nahm Mokosch Lis’ Arm und legte ihn um ihre Schulter. Dann zog sie sie mit einem erstaunlich kräftigen Ruck auf die Beine. Auf sie gestützt lief Lis los. Sie gingen durch das Palasttor hindurch auf den Marktplatz, der verwüstet und beinahe leer war. Als sie einige Krieger entdeckten, wichen sie in eine Seitengasse aus und nahmen einen Umweg durch das Häusergewirr. Sie drückten sich an den Mauern entlang, rannten über eine breitere Straße und liefen im Bogen in Richtung Priesterturm. Lis überkam ein Gefühl der Unwirklichkeit. In ihrer Vorstellung waren Kriege brüllend laut und unübersichtlich. In den Filmen, die sie im Kino gesehen hatte, wimmelte es von Kriegern, Tausende von Statisten prallten in Massenszenen aufeinander. Doch der richtige Krieg war viel leiser und um ein Vielfaches bedrohlicher. Kampflärm und Schreie hörten sie nur noch vereinzelt. Stattdessen hatte sich die Bevölkerung in den Häusern oder Verstecken verschanzt. Die Gassen wirkten wie ausgestorben, die letzten Kämpfe fanden wohl im Palast und in den Straßen an der Stadtmauer statt. Auf ihrer Suche nach den Priestern durchkämmten die Sarazenen außerdem wahrscheinlich Haus für Haus.
Sie waren schon beinahe wieder am Marktplatz angelangt, als aus einem Hauseingang eine Frau hervorstürzte. Sie hatte keine Haare, lediglich kurze versengte Stoppeln bedeckten die helle Kopfhaut, die in seltsam intensivem Kontrast zum gebräunten Gesicht stand. Eine leichte Schürfwunde an ihrer Stirn glänzte in der grellen Vormittagssonne. »Lisanja!«, rief die Fremde. »Meine kleine Schwester lebt!«
Lis blinzelte und erkannte Tona wieder. Ihr schönes, rotes Haar war verbrannt, doch sonst war sie unversehrt! »Tona!«, schrie sie auf und umarmte die große Frau.
Trotz der Situation, in der sie sich befanden, musste Lis lachen, als sie sich an die Vision des brennenden Haars erinnerte. Nun war sie unendlich erleichtert. Die Gefahr war vorbei – Tonas Haar würde wachsen und die Wunde verheilen. »Tona, ich bin so froh, dass du lebst!«
»Und ob ich lebe!«, rief sie. »Und bevor du fragst: Zlata geht es auch gut. Niam und seine Leute haben uns alle zusammen in ihr Haus eingesperrt und es dann in Brand gesteckt.« Behutsam fuhr sie sich über den Kopf. »Meine Haare sind verbrannt, als wir versucht haben, zur Geheimtür hinter dem Schrein zu kommen. Der Gang ist noch nie benutzt worden, er war ganz verschüttet, aber es ist uns trotzdem gelungen, den Schutt wegzuräumen und zu entkommen. Und dann haben Matej und ich Zlata zum Strand getragen.«
»Matej?« Lis spürte, wie ihr Herz einen Satz machte.
»Er war es, der die Sarazenen in die Stadt gelassen hat. Er hat es geschafft, noch in der Nacht einen Teil der Kuriere zu finden, die sich in
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