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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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rettendes Bild, das sie vor dem Ertrinken im Wahnsinn bewahren konnte, fielen ihr im Getümmel ein grauer Priestermantel und blondes Haar auf. »Da, da sind sie!«, rief sie Tona zu und zupfte sie am Ärmel.
    Sie kämpften sich durch die Menge, die sich am Fuß des Turms versammelte, bis sie bei Zoran und Levin angelangt waren. Lis schaute sich nach dem Torwächter Matej um, doch er war nirgends zu sehen.
    »Ah, Lisanja!«, rief Levin ihr entgegen. Zoran nickte ihr zum Gruß zu und konzentrierte sich dann wieder mit zusammengekniffenen Augen auf das Geschehen vor dem Eingang des Priesterturms.
    »Levin, Gott sei Dank!«, flüsterte sie ihrem Bruder auf Deutsch zu. »Ich dachte schon, ich werde verrückt. Wir können heute Nacht…«
    »Später!«, flüsterte er. »Schau dort!«
    Wachen mit Lanzen und Schlagstöcken aus knotigem Wurzelholz hatten Position bezogen, eine Plattform aus Zedernplanken stand dort, die Lis bis dahin nicht bemerkt hatte. Lis stellte sich ganz nah an Levin heran und drückte ihm kurz und verstohlen die Hand. Er zwinkerte ihr zu und erwiderte ihren Händedruck. Sie hatte den Eindruck, dass er ebenso erleichtert war, sie zu sehen, wie umgekehrt. Sie atmete auf und fühlte sich sofort ein wenig sicherer.
    »Die Kuriere sind im Turm, wie wir vermutet haben«, flüsterte Zoran Tona zu. Sie stellte sich hinter Lis und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Im Gebäude rechts neben dem Priesterturm – ein breites Haus aus weißem Stein, auf dem ein Muschelmosaik mit einem Sonnensymbol prangte, gingen die schweren Türflügel aus Holz auf.
    Die Menge verstummte. Lis hielt die Luft an und reckte den Hals, um besser sehen zu können.
    »Fürst Dabog wird nun mit den Priestern des Poskur erscheinen«, flüsterte ihr Tona zu. Der Griff auf ihrer Schulter verstärkte sich.
    Totenstille lag über dem Platz, als mehrere Männer in langen, roten Gewändern durch die Tür traten.
    »Wow«, flüsterte Levin, ohne auf Zorans erstaunten Blick zu achten.
    Fünf waren es, doch schon auf den ersten Blick sah man, welcher von ihnen der Anführer war, der Kopf der Priestergemeinschaft.
    »Der Größte von ihnen, das ist Niam«, sagte Tona. Ihre Stimme zitterte. Auch ohne diesen Hinweis hätte Lis ihn sofort erkannt, obwohl er ebenso gekleidet war wie die anderen Priester. Bodenlang waren die Gewänder, von schlichtem, geradem Schnitt und tiefrot gefärbt. Die Priester trugen keine Bärte, und die Augen waren dick mit schwarzer Schminke umrahmt, die sich bis über die Wangen und einen Teil der Stirn zog. Auf den ersten Blick sah es aus, als trügen sie eine durchgehende Maske über den Augen, was ihnen ein martialisches Aussehen verlieh.
    Niam war der Hagerste und Markanteste von ihnen. Sein Haar war zwar schütter und grau – er mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein –, aber mit seiner Haltung und der Autorität, die er ausstrahlte, hob er sich von den anderen Priestern so deutlich ab wie ein Wolf von einer Horde Dackel.
    Hinter den Priestern betrat ein untersetzter Mann den Marktplatz. Sein Gesicht war scharf geschnitten, die Nase lang und schmal, seine Stirn hoch und von Falten durchzogen. Auf den ersten Blick wirkte er massig und stark. Doch sein seltsam gebeugter Gang strafte diesen Eindruck Lügen. Sein Mantel berührte fast den Boden. Auf dem Kopf trug er ein breites Band aus Kupfer, das ihn niederzudrücken schien. Lis staunte darüber, dass der Mann auffallend helles Haar hatte, das bereits grau schimmerte. »Fürst Dabog?«, fragte sie. Zoran nickte.
    Die Prozession überquerte den Platz, bis sie vor dem Priesterturm angelangt war. Auf ein Zeichen von Niam betraten vier der Wächter den Turm. Ein Raunen ging durch die Menge, als sie wieder herauskamen. Grob stießen sie mit ihren Stöcken zwei Gefangene vor sich her. Unwillkürlich trat Lis einen Schritt zurück.
    Es waren ein älterer Mann und ein kräftiger Krieger, der kaum älter als fünfundzwanzig sein mochte. Sie waren gefesselt und gingen gebeugt wie unter großen Schmerzen. Lis tat es beinahe körperlich weh, ihre Verletzungen in der grellen Sonne zu sehen. Beiden klebte getrocknetes Blut an Gesicht und Hemd, das linke Auge des jungen Mannes war blau geschlagen und völlig zugeschwollen.
    Unsanft wurden sie auf das Podest gestoßen, wo sie schwankend stehen blieben und angestrengt in die Menge blinzelten. Lis fiel auf, dass der Kurier in der Menge fieberhaft nach einem bestimmten Gesicht zu suchen schien. Für einen Moment sah er auch Lis an,

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