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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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der Moschusgeruch intensiver, als eine Brise über den Platz wehte. Rauch kräuselte sich, kaum sichtbar, dann immer deutlicher. Mit Entsetzen sah Lis, dass der weiße Rauch aus dem hölzernen Maul der Statue kam. Immer mehr Rauch bauschte sich in den Himmel. Schreie wehten über den Tempelplatz, Menschen sprangen auf die Beine und deuteten auf die Statue. Dann züngelte die erste Flamme aus dem Mund des Ungeheuers und leckte über das hölzerne Gesicht. Das Öl fing sofort Feuer, wenige Augenblicke später brannte die Statue lichterloh. Die gefangenen Kuriere waren noch blasser geworden, der ältere Mann sackte zusammen. Seine Schultern zuckten, als würde er weinen.
    »Was bedeutet das?«, flüsterte Lis. »Werden sie verbrannt?«
    »Sieht so aus«, flüsterte Levin zurück. »Wie haben die Priester das gemacht? Vielleicht mit einem Brennglas?«
    Die Rauchsäule schraubte sich in den Himmel, von der Statue war nichts mehr zu erkennen. König Dabog hob die Arme und verkündete das Urteil, das alle bereits verstanden hatten. »Poskur hat gesprochen!«, sagte er. »Im Feuer der Rache sollen die Verräter sterben. Wenn der Mond voll ist und Nemeja das Meer schwellen lässt, werden sie hier vor dem Tempel den Tod finden unter den Augen von Poskur und seinem Volk.«
    Die Wachen zerrten die Gefangenen auf die Beine und trieben sie in den Turm. Vier der Priester folgten ihnen, nur Niam blieb auf dem Podest stehen und wandte sich noch einmal an das Volk.
    Seine Augen waren hart und schmal, als er einzelne Gesichter in der Menge musterte und mit der Hand in die Menge deutete. »Du!«, rief er. »Oder du! Oder du da, ja, genau dich in dem grünen Kleid meine ich! Ihr alle seid gewiss, dass Poskur die Verräter finden wird, die der Desetnica dienen. Glaubt euch nicht sicher in der Menge. Ich weiß, dass ihr dort seid! Poskur wird euch finden und zermalmen!«
    Eine Sekunde lang schien er Lis direkt anzuschauen. Erschrocken zuckte sie zusammen, dann drehte sich der Hohepriester schon schwungvoll um und schritt an der Seite von Fürst Dabog zurück in das klotzige, weiße Gebäude unweit vom Priesterturm, das vermutlich eine Art Palast war.
    Lis wagte wieder zu atmen und sah sich verstohlen um. Die Menschen um sie herum schauten mit dem gleichen Unbehagen ihre Nachbarn an, Misstrauen im Blick. Schließlich zerstreute sich die Menge nach und nach. Die vier Priester löschten die brennenden Reste der Statue und sammelten sie in einem hölzernen Weihebehälter, der wie eine riesige Urne aussah. Menschen drängten heran, um Asche vom Boden aufzusammeln, sich das Gesicht damit einzureihen und den Kindern als Segen auf das Haar zu streuen.
    »Wann ist Vollmond?«, fragte Lis, zu Tona gewandt.
    Die junge Frau sah sehr besorgt aus. »Bald«, sagte sie. »Viel zu bald! Heute Nacht hatte der Mond die Form eines Lächelns. Du kannst es dir ausrechnen.«
    Lis runzelte irritiert die Stirn. In Piran hatte in der Nacht zuvor der Vollmond am Himmel gestanden. Waren sie wirklich in einer anderen Zeit gelandet? Die Vorstellung jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
    Zoran drängte zum Aufbruch. »Wir haben weniger Zeit, als ich dachte. Lasst uns zu Zlata gehen.«

Das Orakel der Nemeja
     
    Z
    lata war eine alte Frau. In ihrem Steinhaus, das weit prächtiger war als der Bauernhof, in dem Zoran und Tona wohnten, lag sie auf einem Bettgestell aus Holz. Stroh quoll unter dem Tuch hervor, auf dem sie lag. Um sie herum standen Gefäße aus Kupfer und Glas, die mit schwach duftenden Essenzen gefüllt waren. Außerdem erkannte Lis im Halbdunkel des Zimmers verschiedene Holzfiguren. Manche von ihnen zeigten eine ähnliche Fratze wie die des Gottes Poskur, andere stellten eine Muräne mit weit aufgerissenem Maul und nach innen gebogenen Zähnen dar.
    Erst als die alte Frau im Bett sich mühsam mit den Armen aufstützte, erkannte Lis, dass Zlatas Beine gelähmt waren. Mit ihrer pergamentenen Haut und den tief in den Höhlen liegenden Augen sah sie krank und hinfällig aus. Tona sprang herbei und schob ihr eine mit Stoff bezogene Holzstütze hinter den Rücken, damit sie aufrecht sitzen konnte.
    »Zoran, mein lieber Junge!«, sagte Zlata mit ruhiger Stimme und reichte dem großen Mann beide Hände. »Wie steht es mit den Kurieren?«
    Zoran schüttelte den Kopf. »Nicht gut, Zlata. Wie wir gestern befürchtet hatten, sind sie zum Tode verurteilt worden. Bei Vollmond werden sie auf dem Priesterplatz verbrannt.«
    Wenn diese Worte Zlata erschreckten, dann

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