Die Rückkehr der Zehnten
aber sein Blick schweifte gleich weiter.
Niam stellte sich vor die beiden Männer und hob die Arme. Sein rotes Gewand bauschte sich. »Menschen Antjanas! Diener Poskurs, des Großen, des Grausamen, des Rächers!«
Lis lief ein Schauer über den Rücken, obwohl seine Stimme nicht bedrohlich klang, im Gegenteil. Sie war gütig und freundlich und sehr durchdringend. Auch wenn er geflüstert hätte, man hätte ihn zweifellos an jeder Ecke des Platzes verstanden.
»Ihr wisst, welche Bedrohung über Antjana liegt! Nur zu gut kennt ihr die Prophezeiung und wisst, dass die Stadt vor einer großen Prüfung steht.« Er senkte die Stimme. »Die Desetnica ist zurückgekehrt. Mit Hilfe der niederen, frevelhaften Götter des Verderbens hat sie überlebt und widersetzt sich dem ewigen Gesetz von Poskur. Sie widersetzt sich und sammelt Truppen vor der Küste! Rache will sie! Euch alle will sie töten, jeden Einzelnen von euch will sie im Feuer der Rache verbrennen!« Mehrere Augenblicke lang ließ er diese Worte nachklingen.
Lis schaute sich verstohlen um und las die Angst in den Gesichtern.
»Sie fordert Poskur heraus!«, donnerte Niam wieder los. »Und diese beiden hier…« – er wirbelte herum und zeigte mit seinem Stock auf die Kuriere – »… sind ihre Diener. Verraten haben sie euch, verraten haben sie die Stadt! Sie unterwandern das Gesetz und die göttliche Ordnung. Heimlich tragen sie Botschaften zur Desetnica und ihren Truppen und verbünden sich mit ihnen. Sie sind eine faulende Stelle an unserem Baum, ein brüchiger Ast, der demjenigen den Tod bringt, der sich auf seine Stütze verlässt.«
Er ließ die Arme sinken und rief in Lis die Erinnerung an römische Kaiser hervor, die mit einem Fingerzeig über Leben und Tod der Gladiatoren entschieden. Sie biss sich auf die Lippe. Nun, es war deutlich genug, dass Niam soeben ein Todesurteil verkündet hatte. Fast konnte sie die Gefangenen nicht mehr ansehen, so sehr verspürte sie Mitleid mit ihnen. Der ältere Mann vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Ein Murmeln ging wieder durch die Menge, dann wurden vereinzelte Rufe laut. Menschen drängten in die Nähe des Podests. »Verräter!«, tönte es. »Tötet sie!«
Plötzlich flog ein Stein über den Platz und traf den jüngeren Kurier an der Schulter. Stöhnend ging er in die Knie. Tonas Finger gruben sich in Lis’ Schulter. Zoran presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste, doch er schwieg. Niam hob den Arm. Augenblicklich verstummte die Menge.
Fürst Dabog zeigte keine Regung, er nickte nur betont würdevoll, als Niam zurücktrat und seine Ansprache schloss. »Ja, wir könnten sie töten. Aber es liegt nicht in unserer Macht, zu entscheiden, welche Strafe sie verdienen. Poskur selbst haben sie beleidigt, sein Fleisch haben diese Unwürdigen mit dem Messer des Verrats durchbohrt. Was also befiehlst du, Fürst Dabog?«
Der Fürst hob den Arm und wandte sich der Menge zu. »Poskur soll entscheiden«, sagte er mit brüchiger Stimme.
»Ist Niam oder Dabog der Herrscher?«, flüsterte Levin Lis auf Deutsch zu, damit ihn keiner der Umstehenden verstand.
»Poskur!«, riefen die Claqueure in der ersten Reihe.
Niam nickte. Auf seinen Wink gingen drei der Priester in den Turm. Nach einer Weile trugen sie eine Holzstatue heraus, die so groß war wie ein Mensch.
Hölzerne Flammen schossen aus dem zahnbewehrten Maul und umloderten die klauenartigen Hände. Rippen stachen wie Drachendornen aus dem Leib. Grausamkeit zeichnete sich in dem verzerrten Gesicht ab. Lis musste sich eingestehen, dass sie selten etwas so Abstoßendes gesehen hatte. Das Holz war beinahe schwarz, die ganze Statue war poliert und mit einem Öl eingerieben, das sie glänzen ließ. Ein intensiver Duft nach verbrannten Kräutern und Moschus wehte über den Platz. Die Menschen gingen in die Knie, erst in den vordersten Reihen, dann breitete sich die Huldigung wie eine Welle aus. Unwillkürlich folgten Levin und Lis dem Beispiel der anderen und ließen sich auf dem warmen Steinboden nieder.
Auch Niam und die Priester knieten nieder, während Fürst Dabog lediglich den Kopf senkte. Ein Wächter zwang den älteren Kurier mit einem Fußtritt auf die Knie.
»Großer Poskur!«, rief Niam. »Grausamer, Gerechter! Was soll mit diesen Verrätern geschehen?«
Totenstille lastete über dem Platz. Lis konnte in der Ferne das Meer rauschen hören und vernahm die schrillen Schreie der Möwen. Lange Zeit geschah nichts, dann, plötzlich, wurde
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