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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sie Lis mit einem aufmunternden Lächeln in die Hand drückte.
    »Nimm ihn nur«, sagte Tona. »Alles, was Tante Hleva getragen hat, bringt Glück.«
    Gehorsam legte Lis das Schmuckstück an. Gerne hätte sie mehr über Tonas Geschichte erfahren, aber das betont konzentrierte Gesicht der jungen Frau zeigte ihr, dass sie ihr jetzt nichts mehr erzählen würde. Vielleicht war es ohnehin besser, nicht zu viel zu wissen. Das, was ihr jetzt wirklich am Herzen lag, war, ihren Bruder zu finden und zu überlegen, wie sie wieder nach Piran zurückkommen konnten. Verstohlen schielte sie zu Levins Kleiderhaufen, den Tona nun aufsammelte. Sie zuckte zusammen, als es in der Tasche von Levins Jeans klimperte. »Lass nur, ich mache das«, sagte sie schnell und nahm Tona die Kleidungsstücke ab.
    Tona zog die Brauen hoch und deutete auf eine Truhe unter einem der lochartigen, winzigen Fenster, die kaum Tageslicht hereinließen. »Gut, wenn du möchtest. Lege sie dort in die Truhe.«
    Lis nickte. Der Truhendeckel war schwer und fühlte sich ölig und kühl an. Ein Schwall von frischem Holzgeruch und Leder kam ihr entgegen, als sie sich darüber beugte. In der Truhe lagen dicke Stoffe und genähte Lederschuhe, die wie Mokassins aussahen. Vielleicht bewahrten die Bewohner von Zorans Hütte hier ihre Wintersachen auf. Verstohlen griff Lis in die Hosentasche von Levins Jeans und ertastete erleichtert die Umrisse seines Handys. Mit zitternden Händen zog sie es heraus. Die Erleichterung schlug in eine neue Panik um, als sie feststellte, dass es nicht funktionierte. Das Display blieb dunkel, während sie mehrmals versuchte, es einzuschalten. Sie ahnte, es lag nicht an einem Funkloch, dass sie keine Verbindung bekam. Sie musste zu Levin!
    »Was suchst du?«
    Obwohl sie sich ertappt fühlte, zwang sie sich, das Handy so ruhig wie möglich wieder in der Tasche zu verstauen. »Nichts, nur mein… meine… Eidechsenknochen!« Erleichtert, dass ihr diese logische Ausrede eingefallen war, klappte sie die Truhe wieder zu.
    Tonas Augen leuchteten auf. »Hast du sie gefunden?«
    Lis schüttelte in gespielter Sorge den Kopf und improvisierte weiter. »Gestern hatte ich sie noch, bevor wir an der Stadtmauer anlangten. Ich muss sie auf dem Weg hierher wohl verloren haben. Schade.«
    »Wir müssen sie suchen!«, rief Tona aus. Ihr Gesicht verriet eine solche Besorgnis und Teilnahme, dass Lis ein schlechtes Gewissen bekam.
    »Ach…«, wollte sie abwehren. Aber dann fiel ihr plötzlich ein, dass ihr gar nichts Besseres passieren konnte. »… Ich meine – ja, ich muss sie wiederhaben! Vermutlich liegen sie gar nicht weit von dem Geheimgang entfernt.«
    Tona nickte eifrig. »Gleich wenn wir vom Markt zurückkommen, sage ich Matej, dass wir heute Nacht zur Stadtmauer gehen. Bei Tageslicht können wir nicht hinaus, das wäre zu gefährlich. Aber du hast sicher Seherinnenaugen, mit denen du die Eidechsenknochen auch bei Dunkelheit findest?«
    »Ja natürlich«, erwiderte Lis schnell. Ungeduld kribbelte bereits in ihren Händen. Nun musste sie nur noch Levin finden – und dann würden sie heute Nacht die Stadt verlassen können. Geflissentlich drängte sie die Erinnerung an die leere Landzunge, die sie gestern Nacht gesehen hatten, aus ihrem Gedächtnis. »Du sagtest, Zoran und… äh… Karjan seien schon auf dem Tempelplatz«, fragte sie.
    »Ja«, sagte Tona. »Vielleicht haben sie bereits erfahren, was mit den Kurieren geschehen ist.«
    Lis konnte es kaum erwarten, aus der Hütte zu kommen. Ihr Atem ging schnell vor Ungeduld, als sie sich duckte, um durch die schmale Tür ins Freie zu gelangen. Meeresduft wehte ihr entgegen, eine grelle Sonne, die schon hoch am Himmel stand, blendete sie. Sie standen in einer schmalen Gasse, an deren Rand sich mehrere niedrige Häuser aus Holz zusammenkauerten. Wie Tonas Haus hatten auch die anderen Dimnicas Dächer aus Reisig, die flach und weit ausladend waren. Es sah aus wie ein kleines Dorf mit lauter Hexenhäuschen.
    Tona ging voraus und Lis folgte ihr in der Hoffnung, dass sie nicht zu sehr auffallen würde. Doch anscheinend war sie in ihrem Kleid kein ungewöhnlicher Anblick. Wie auf Watte lief sie über die Straßen, die es gar nicht geben durfte. Gestern beim schwachen Licht des Mondes war ihr die Stadt noch wie etwas erschienen, das es durchaus geben konnte. Aber jetzt, im hellen Sonnenlicht, verwirrten sich ihre Gedanken. So musste sich jemand fühlen, der gerade verrückt wurde. Die Menschen um sie herum

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