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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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schienen erschreckend reale Gespenster zu sein. Ängstlich wich sie jedem, der ihr entgegenkam, aus, um ihn nicht auch nur zufällig zu berühren. Das Blut pochte in ihren Schläfen, so aufgeregt war sie. Mehrfach stolperte sie und stieß sich den Fuß. Zumindest der Schmerz war pure Wahrheit.
    Die Menschen grüßten sie, niemand schien sich über ihre Anwesenheit zu wundern oder ihre Unsicherheit zu bemerken.
    Nach und nach verbreiterten sich die Wege. Die Häuser wurden größer und standen dichter, einige von ihnen waren auf Grundmauern aus roh behauenen, weißen Steinen aufgesetzt, die Lis bis zur Brust reichten.
    Staunend betrachtete sie die Gegenstände, die über den Türstöcken hingen. Es waren Haken und seltsame Gerätschaften, die sie nicht kannte und von denen sie sich nicht vorstellen konnte, wozu sie gebraucht wurden. Vor einigen Häusern saßen alte Menschen mit erschreckend faltigen und verwüsteten Gesichtern; sie schnitzten Holzhaken oder sponnen Wolle. Sogar ein Kunstschmied arbeitete vor seiner Hütte und ritzte Ornamente, die wie Sonnen aussahen, in einen Kupferkrug. Als Lis’ Schatten auf ihn fiel, sah er auf, musterte sie kurz und grüßte. Lis erwiderte den stummen Gruß mit der gleichen Geste und beeilte sich, zu Tona aufzuholen.
    Sie gingen durch Gassen, die aus gestampfter Erde bestanden, kamen von dort aus auf Wege, die mit Holzplanken belegt waren, bis die Straßen noch breiter wurden und aus Stein gefertigt waren. Wie ein grobes Mosaik sah das Kopfsteinpflaster aus, das Lis vorsichtig überquerte, um nicht über einen der unregelmäßigen Steine zu stolpern. Auch die größeren Häuser waren in der Regel aus Holz, aber es gab auch prächtige Gebäude mit Säulen und Steinmauern. In manche von ihnen waren mosaikartige Bilder eingelassen, die Szenen aus dem Leben am Meer zeigten.
    Zwischen zwei Fenstern entdeckte Lis einen Delfin aus graublauen Muscheln und an einer anderen Stelle das Bild eines Fischers, der mit seinem Boot auf den Wellen trieb. Entfernt erinnerte sie das Bild an ein Motiv, das sie im Museum auf einem der Ölgemälde gesehen hatte.
    Inzwischen musste sie sorgfältig darauf achten, Tona nicht aus den Augen zu verlieren, so viele Menschen schoben sich in ihr Blickfeld. Nun konnte sie es nicht mehr vermeiden, dass sie ein Arm streifte oder eine Schulter sie zur Seite rempelte. Sie roch Schweiß, Salz, verräucherte Kleidung und mitten in dieser Geruchskaskade den Duft von getrockneten und zerstoßenen Kräutern, die alte Frauen am Wegrand in kleinen Säcken anboten. Längst hatte sie die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, auf welcher Seite sich die Stadtmauer befand, die sie von Piran aus gesehen hatte. Tona blickte sich nach ihr um, lächelte und winkte sie heran. Nach einer weiteren Biegung tat sich vor ihnen ein riesiger freier Platz auf. Hier waren die Steine, die den Boden zierten, sorgfältig glatt geschliffen. Der Platz strahlte weiß, gesäumt war er von Steingebäuden, die mehrere Meter hoch waren. Und mitten auf dem Platz stand ein riesenhafter Turm aus Stein und Holz, das beinahe schwarz war. Wuchtig und rund war er wie ein Wehrturm aus dem Mittelalter und ragte fensterlos in den blauen Himmel.
    »Das ist der Priesterturm«, sagte Tona. Lis schirmte mit der Hand das Sonnenlicht ab und legte den Kopf in den Nacken, um ganz nach oben blicken zu können. Auf dem flachen Dach war ein Holzgeländer, wahrscheinlich befand sich oben eine Plattform. Von dort konnte man sicher die ganze Bucht überblicken.
    Rund um den Turm entfaltete sich ein Markt mit den verschiedensten Ständen. Manche Händler hatten auch einfach nur ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet und boten ihre Waren darauf an. Lis betrachtete die Ton- und Kupfergefäße, Fibeln, Stoffe und Holzschnitzereien in Form von Delfinen und Seeschlangen. Mit Erstaunen entdeckte sie auch farbige Glasperlen, milchige Bernsteinplättchen und geschliffene und polierte Muschelschalen, die als Essgeschirr dienten.
    Außerdem fielen ihr viele Menschen auf, die nicht in grob gewebten Gewändern gingen, sondern viel prächtiger gekleidet waren. Feines rotes Tuch wehte im Sommerwind, die Stickereien aus Goldfaden sahen verschlungen und bedeutungsschwer aus. Frauen hatten Perlmuttkämme und Muscheln in die Haare eingeflochten und trugen große, klingende Bronzeohrringe. Manche von ihnen hatten sich die Augen kunstvoll mit schwarzblauer Schminke umrandet, eine Zierde, die Lis auch bei einigen Männern entdeckte.
    Wie ein

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