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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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ist am wenigsten geschützt.«
    Gespenstische Ruhe lag über der Bucht, doch kein Schattenschiff zeigte sich auf der Wasseroberfläche. Lis schluckte und fühlte den Kummer bei der Erinnerung, wie Levin und sie vor wenigen Tagen – und doch schien es ihr wie Jahrhunderte – am Leuchtturm genauso wie jetzt nach Schiffen Ausschau gehalten hatten. Verstohlen sah sie ihren Bruder von der Seite an. Sein Mundwinkel zuckte, er war nervös und sein Gesicht sah traurig aus.
    »Denkst du auch gerade an Mama und Papa?«, fragte er leise auf Deutsch.
    Sie nickte und schluckte den Kummer hinunter. »Ich frage mich, warum ausgerechnet wir hierher gekommen sind«, sagte sie leise. »Es muss einen Sinn haben.«
    »Es hat einen Sinn, Lis, wir begreifen ihn nur noch nicht.«
    Unwillkürlich musste sie lächeln. Ihr Bruder hatte sich so mühelos in die Rolle des Propheten hineinbegeben, dass er schon ganz von selbst in dieses Verhalten verfiel, ohne sich dessen bewusst zu sein. War das vielleicht der Sinn des Ganzen? Levin sein ersehntes Leben zu ermöglichen? Plötzlich fiel ihr Zlata wieder ein. Sie fühlte den Blick der alten Frau auf sich gerichtet. »Ihr müsst die Kuriere retten«, hatte sie zu Lis gesagt.
    Lis blinzelte und rief sich die Szene auf dem Priesterplatz ins Gedächtnis. Niams Maske, sein langes, rotes Gewand, seine Haltung, die sie an irgendjemanden erinnerte. Eine zarte Ahnung streifte sie und sie rieb sich mit der Hand über die Augen und dachte nach. Irgendwo hallte ein Echo in ihrem Inneren, es war fast wie ein Déjà-vu. Plötzlich wusste sie es. Niam hatte die gleiche Kopfhaltung wie Levin! Der gleiche Stolz strahlte von ihm aus. Unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, würden sie sich sicher gut verstehen. Sie konnte sich Niam als strengen Lehrer vorstellen, als Vorstand in einem Unternehmen, in dem Levin die Tricks der Branche lernte. Lis überdachte das Bild, das sie sich von den beiden gemacht hatte, und ließ das unbestimmte Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben, an die Oberfläche ihres Bewusstseins treiben. In einer anderen Zeit? Sie musste lächeln. So einfach war die Lösung. »Ich weiß, was wir machen müssen!«, flüsterte sie Levin zu. »Du musst dich den Priestern vorstellen.«
    »Was sagst du?« Er starrte sie völlig perplex an.
    »Na, den Priestern vorstellen. Du bist ein Reisender, ein Hohepriester Swantewits. Du könntest dir bei den Priestern Zugang verschaffen und die Kuriere befreien.«
    Levin machte den Mund wieder zu und spähte über das Meer. Lis kannte diesen Blick nur zu gut. Es war derselbe konzentrierte Ausdruck, den Levin hatte, wenn er über einem Computerspiel saß und eine Strategie austüftelte, wie er das magische Schwert, die Prinzessin oder was auch immer gefunden werden musste, aus der Gefahrenzone bringen würde.
    »Na klar!«, sagte er nach einer Weile. »Warum sind wir nicht viel früher darauf gekommen? Wir schmuggeln uns bei ihnen ein und bleiben in Kontakt mit Zoran und den anderen. Ich könnte versuchen, an die Gefangenen ranzukommen und euch einen Wink geben.«
    »Meinst du, du schaffst das?«
    Levin grinste. »Nur, wenn du mitkommst. Einen internen Kurier brauchen wir ja auch.«
    Lis’ Wangen brannten, noch einmal dachte sie an die Gefangenen, denen das Blut an Mund und Nase klebte, dann stieß sie Levin verstohlen in die Seite. »Ich bin dabei, Levin.«
    »Karjan«, murmelte er. »Ich heiße Karjan.«

Niam
     
    F
    rühmorgens begegneten ihnen nur die Fischer mit großen Weidenkörben auf dem Rücken, randvoll mit stachligen oder mondsteinglatten, silbernen Fischen. Erstaunt betrachteten die Korbträger den würdevollen jungen Mann mit dem grauen Mantel, der sich auf einen langen Stock stützte. Der Holzknauf des Wanderstabs stellte einen Kopf mit vier Gesichtern dar, die in alle Himmelsrichtungen blickten. Lis folgte Levin mit einer großen Basttasche, in die ihr Tona allerhand Gerätschaften und viel zu viel Essen eingepackt hatte.
    Weder Tona noch Zoran hatten Levins Plan, bei den Priestern vorzusprechen, für gut befunden, aber da es keine andere Möglichkeit gab, zu den Gefangenen zu gelangen, gaben sie ihren Widerstand schnell auf und willigten ein, ihnen zu helfen. Fast die ganze Nacht hatte Levin bei Zoran gesessen und über die Gebräuche und Traditionen von Antjana gesprochen. Borut hatte den hölzernen Knauf in Form von Swantewits Kopf geschnitzt. Außerdem hatten er und Tona nach Levins Anweisungen aus Knochen und Holz Kultgegenstände

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