Die Rückkehr der Zehnten
Diener antworten konnte, erschien ein großer hagerer Mann in der Tür. Beinahe hätte Lis ihn nicht wiedererkannt, denn er trug nicht mehr das rote Gewand, sondern eine schlichte Leinenkutte, und auch die martialische Schminke war verschwunden. So sah Niam aus wie ein sehniger, älterer Mann mit vorspringendem Kinn. Doch als er anfing zu sprechen, erklang wieder die Stimme der Macht. Eine Energie und Intensität ging von ihm aus, die Lis einschüchterten.
»Geh«, sagte er ohne Tschur anzusehen, woraufhin sich der Novize schnell verbeugte und zurückzog. Niam sah ihm nicht nach, sondern wandte sich mit verschränkten Armen an Levin.
»Ein Gast bist du?«, fragte er. Es sah nicht so aus, als habe er vor, die fremden Reisenden einzulassen. »Woher?«
Levin zeigte sein kühles, gewinnendes Lächeln und hob stolz den Kopf. »Aus Arkona bei Rügen, weit von hier. Viele Tage sind wir schon unterwegs. Ich bin Karjan, Hohepriester des Gottes Swantewits des Viergesichtigen.«
»So, Swantewits Priester«, erwiderte Niam in aller Ruhe und musterte Levin, als wollte er sich jedes Härchen genau einprägen. Auf Lis verweilte sein dunkler Blick nur kurz. »Und nun begehrst du Einlass in mein geweihtes Haus.«
Levin nickte. »So ist es. Wir sind hungrig und müde von der Reise.«
»Auf eurer Reise – habt ihr da etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
»Nun, ein Kriegsschiff vor eurer Stadt, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Es ist schnittig und schnell und hat einen Dorn an der Vorderseite. Wir sahen, dass es Antjana umkreist.«
Niams Mundwinkel zuckte, als wollte er lächeln. »Eines nur? Dann seid ihr zu einem günstigen Zeitpunkt in die Stadt gekommen. Es wundert mich, dass ihr an den Wachen vorbeikamt. In diesen Tagen ist die Stadt besser verriegelt als eine Truhe mit Tempelschätzen.«
Nun war es an Levin, ein spöttisches Zucken der Mundwinkel zu präsentieren. »Dafür stehe ich unter Swantewits Schutz«, sagte er. »Ich bin nicht unverwundbar, aber sein Schritt ebnet mir den Weg.«
Niam lachte trocken. »Nun gut, fremder Priester. Du bist jung, sehr jung für einen so hohen Würdenträger, meinst du nicht? Sogar meine jüngsten Lernenden sind älter als du.«
»Bei uns sucht der Gott sich seine Diener nach der Reife des Herzens aus, nicht nach der Farbe der Barthaare«, erwiderte Levin, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Antwort schien Niam zu gefallen. Lis hatte das Gefühl, dass sie und ihr Bruder Mäuse waren und die Katze hatte beschlossen, ein wenig mit ihnen zu spielen. Im Moment hätte sie sicher geschnurrt.
»Mein junger Freund«, begann Niam beinahe väterlich. »Wir wissen beide, dass du kein Reisender bist, der Unterkunft sucht. Wäre dies dein Anliegen, hättest du in jedem Bauernhaus ein mehr als gutes Bett bekommen. Was also willst du von mir?«
Levin lachte auf und hob seinen Priesterstab. »Euer Gott muss ein mächtiger Gott sein, wenn er so kluge Diener wählt. Ja, ich kam nach Antjana mit dem Ziel, von Euch zu lernen. Ganz richtig habt Ihr bemerkt, dass ich sehr jung bin, um ein Priester zu sein, und man sandte mich aus, um zu lernen. Es ist der Brauch, dass jeder junge Priester für die Zeit eines Sonnenlaufs der Stimme seines Gottes folgt, wohin er ihn auch führt. Nun, Swantewit hat mich weiter fortgeführt, als ich je gehen wollte. Wohl weil er weiß, dass Poskur seiner Macht in nichts nachsteht und ich mit Eurer Hilfe seine Macht in Arkona noch vermehren kann. Nehmt mich auf, für eine Zeit nur.«
Niams Gesicht blieb unbewegt. Immer noch stand er mit ablehnend verschränkten Armen da und rührte sich nicht von der Stelle. »Nun«, sagte er. »Du magst Swantewit würdig und gefällig sein, aber Poskur ist ein wählerischer Gott. Es ist sein Haus, in das du Einlass begehrst, also mag Poskur entscheiden, ob er dich einlässt. Setz dich zu Füßen des Gottes und warte. Wenn du seine Antwort hast, klopfe wieder bei mir.«
Damit schloss er die Tür. Lis sah Levin verdutzt an, der sich umdrehte und zu dem Pavillon blickte. Novizen hatten Räucherwerk entzündet und in Goldschalen Münzen vor die Statue gestellt. Jetzt sahen sie neugierig zu ihnen herüber und unterhielten sich leise.
»Sieht so aus, als soll das eine Prüfung werden«, murmelte Levin. »Die kann er haben.«
»Sollen wir beide jetzt vor der Statue sitzen, bis er uns holt?«
Levin schüttelte energisch den Kopf. »Nur ich, Lis. Du bist eine Magd, ich bin es, der die Prüfung bestehen muss. Du kannst die Zeit nutzen, um
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