Die Rückkehr der Zehnten
weitere Nachforschungen anzustellen. Ich bin sicher, hier gibt es eine Art Gesindehaus. Wir werden die Novizen fragen.«
Lis hielt ihn am Arm zurück. »Geh nur zur Statue, ich komme schon zurecht. Ich schaue später nach dir.«
Er gab ihr ein verstohlenes Abschiedszeichen und ging mit gemessenen Schritten zum Pavillon, wo er seinen Priesterstab vor sich hinlegte und sich auf den Stein setzte. Ohne Eile holte er die heiligen Gegenstände aus seinem Beutel und stellte sie neben sich auf den Boden. Aufrecht wie ein indianischer Schamane saß er da.
Die Novizen tuschelten, als Lis auf sie zutrat. Sie war froh, dass Tschur nicht unter ihnen war. Unwillkürlich wandte sie sich an einen, der ihr auf den ersten Blick etwas zugänglicher und freundlicher erschien. Er war beinahe so groß wie Levin, hatte dunkles Haar und einen sanften, breiten Mund, der in seltsamem Kontrast zur Schrecken erregenden Schminke stand.
»Ich bin Lisanja, die Magd des Priesters Karjan«, sagte sie. »Wie ihr seht, hat mein Herr von Niam den Auftrag, zu Poskur zu beten. Wo kann ich ein Lager für die Nacht bekommen?«
Die jungen Männer sahen sich unschlüssig an. Schließlich trat der große Novize vor und deutete auf das Tor. »Hier haben wir keine Kammer für dich«, sagte er erstaunlich freundlich. »Geh zu einem Bauern oder einem Fischer und sag, er soll dir ein Lager für die Nacht geben. Hier.« Er holte zwei goldene Münzen aus seinem Gürtel und drückte sie Lis in die Hand. »Wenn du noch etwas benötigst, frage nach Wit.« Er lächelte. »Das bin ich.«
Lis dankte mit gesenktem Kopf und eilte über den Hof. Sie war froh, den stillen Tempelhof verlassen zu können. Als sie sich an der Flügeltür umdrehte, sah sie Levin immer noch vor dem Götterbild sitzen, so unbeweglich, als wäre er selbst eine Statue.
Inzwischen war der Platz vor dem Priesterturm zum Leben erwacht. Marktleute schlugen ihre Stände auf, die Fischer hatten ihre Ware unter Schatten spendenden Tüchern auf kalten Steinen vom Grunde des Meeres ausgebreitet. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Lis einen Mann, der nur zwei Fische verkaufte, aber die waren mindestens so groß wie Levin. Einer davon war ein Hai, dessen Maul mit einem Stock so aufgestemmt war, dass die Rasiermesserzähne in der Sonne blitzten. Sie waren erstaunlich lang. Der andere Fisch sah aus, als wäre er als Hauptgang bei einem Gelage in der Hölle bestens aufgehoben. Stacheln ragten aus seinem Leib, der kantig und schlank war und in einer pfeilartigen, breiten Flosse auslief, ein Zeichen, dass er sehr schnell schwimmen konnte. Knochige Augenwülste gaben dem Raubfischgesicht einen bösen Ausdruck. Gegen die Zähne, die dieser Fisch präsentierte, erschien der Hai wie ein gähnendes Kätzchen. Lis verschränkte die Arme und schlich langsam, als könnte sie das Ungeheuer aufwecken, ein paar Schritte weiter.
Auch Schmuckverkäufer, Scharlatane und eine Frau, die Hühner feilbot, die in einen viel zu kleinen Holzkäfig gepfercht waren, saßen auf dem Markt. Die Menschen, die sich auf dem Platz zwischen Palast und Priesterhaus aufhielten, wirkten gehetzt.
Lis ließ sich in der Menschenmenge treiben und lauschte den Gesprächen, die an den Ständen geführt wurden. Wie ein geflüstertes Echo hörte sie immer wieder die Worte »Desetnica«, »Sarazenen« und »Krieg« heraus. Viele Menschen kauften große Mengen getrockneter Früchte und Dörrfisch. Wahrscheinlich horteten sie in ihren Kellern bereits Nahrungsmittel und verschanzten die Türen mit zusätzlichem Holz.
Lis entdeckte Kupferschmiede, die in Armbänder und Kettchenanhänger Zeichen einritzten. Sie kamen ihr bekannt vor, da sie der Schrift in ihrem Medaillon sehr ähnlich waren. Nach einer Weile wurde Lis es müde, die Menschen zu beobachten, und ging um den Priesterturm herum. Sie suchte einen Pfad, einen Hinweis auf eine Geheimtür, aber alles, was sie fand, waren glatte Wände und Wächter, die sie argwöhnisch betrachteten. Aus dem Augenwinkel fiel ihr eine dunkelhaarige Frau auf, die ebenfalls zum Priesterturm hochsah. Ihr schwerer Goldschmuck glänzte. Als sie sah, dass Lis sie beobachtete, drehte sie sich um und verschwand in der Menge.
Immerhin fand Lis an diesem Nachmittag heraus, wo der Wächtereingang des Palastes war und dass mehrere Seitentüren in den Palasthof führten, durch die immer wieder Mägde ein und aus gingen.
Als sie müde wurde, kaufte sie sich bei einem Händler einen Laib Brot und einen Räucherfisch, den
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