Die Rückkehr der Zehnten
die Stadtmauer. Er steht oft dort oben und betrachtet das Meer. Vielleicht sucht er im Spiegel des Wassers seine Familie, vielleicht beschwört er die Geister der Toten – ich habe ihn nie gefragt.«
»Seine Familie lebt nicht mehr?«
Zlata nickte und ordnete mit ihren langen, pergamentenen Fingern ihr Haar. Die Geste sah so selbstvergessen und anmutig aus, dass Lis sich für einen Moment vorstellen konnte, wie Zlata als junges Mädchen ausgesehen haben musste. »Seine Familie hat er so früh verloren, er erinnert sich nicht einmal mehr an ihre Namen. Deshalb ist sein Herz einsam.«
»Trotzdem muss er seinen Ärger nicht an mir auslassen.«
Zlata lachte ein helles, heiseres Lachen, das in ein Husten überging. »Ach Lisanja«, sagte sie. »Du bist eine empfindliche Seele und ein kämpferischer Geist. Seltsam, du wirkst überhaupt nicht wie eine Dienerin. Wo ist dein Herr, der junge Priester?«
Lis senkte den Kopf und hoffte, die Röte, die ihr ins Gesicht schoss, würde sie nicht verraten. »Er sitzt vor der Statue des Poskur und wartet auf ein Zeichen, dass er das Priesterhaus betreten darf.«
Zlatas Lächeln war verschwunden, seufzend ließ sie sich auf ihr Lager zurücksinken. Das Stroh raschelte. »Er lässt sich also mit dem grausamen Gott ein«, flüsterte sie und betrachtete die Holzfiguren neben ihrem Bett. »Ich habe es in seinen Augen gesehen.« Ihr Blick flackerte, als sie mit leiser Stimme weitersprach. »Das Gleichgewicht ist zerstört, meine Kleine. Früher, da kämpften und tanzten Nemeja und Poskur auf demselben Stein. Doch seit Fürstin Danila tot ist, hat Poskur sich an Verzweiflung und Leid gelabt. Immer unersättlicher und grausamer wurde er, bis Nemeja uns verließ und ins Meer floh.« Sie hustete und holte angestrengt Luft um weiterzusprechen. »Nur noch selten steht die Göttin uns bei«, schloss sie niedergeschlagen. »Denn zu viele folgen dem grausamen Gott und vergessen, dass alles Leben aus dem Meer kommt. Auch dein Herr ist gerade dabei, sich Poskur zuzuwenden.«
»Nein«, sagte Lis. »Er will nur in die Nähe der Kuriere kommen. Wir wollen sie befreien – schon vergessen?«
Zlatas Augen waren unerbittlich und hart. »Bist du sicher, Dienerin? Woher weißt du, was er im Schilde führt?«
Weil er mein Bruder ist, hätte Lis am liebsten gerufen. Weil er immer noch der Spinner Levin ist, der das Ganze für ein großartiges Spiel namens ›Rettet die Kuriere‹ hält.
»Ich weiß es einfach, denn ich kenne ihn«, antwortete sie leise. »Vertraue mir, Karjan und ich werden die Kuriere befreien.«
Doch der Blick, den Zlata ihr zuwarf, war so kristallklar und viel sagend, dass Lis sich fragte, ob die alte Priesterin nicht bereits alles wusste, was sie und Levin seit Tagen zu verbergen suchten. »Hast du Hunger? Ich glaube, Matej hat dir in dem Topf zu essen gebracht«, sagte sie schnell und machte sich daran, in der Kammer nach Tellern zu suchen. Alles, was sie fand, waren polierte Muschelschalen, die so groß und dick waren, dass sie wohl als Teller dienten. Lis nahm zwei davon und lugte in den großen Tontopf. Als sie den Deckel hob, wehte ihr der Duft von Thymian und Rosmarin entgegen, vermischt mit einem Gewürz, das sie nicht kannte, und dem unverwechselbaren Aroma von würzigem, dunklem Makrelenfleisch. Sie aßen schweigend im Licht der Opferflämmchen. Stille hatte sich über die Stadt gesenkt. Lis schloss die Augen und ließ das köstliche, heiße Fleisch auf der Zunge zergehen.
Mit trockenen Lippen und brennenden Augen wartete Levin immer noch vor der Statue des Poskur. Es bestand kein Zweifel, dass er unbeweglich die ganze Nacht so gesessen hatte. Die Sonne hatte ihm inzwischen die Haut an Gesicht und Händen verbrannt, nun sah er aus, als hätte er Brandverletzungen und litte an Fieber. Doch er hielt sich mühsam aufrecht, obwohl seine Beine bereits taub sein mussten. Schweißtropfen rannen ihm über die Stirn und versickerten im Kragen seines grauen Mantels.
Zwei Novizen hatten ihren Posten im ersten Innenhof bezogen und vertrieben jeden Neugierigen, der sich Levin näherte. Und das waren inzwischen nicht wenige. Regelmäßig versammelten sich die Schaulustigen am Tor und rätselten über die Herkunft des fremden Priesters und über den Sinn dieser Zeremonie. Eine Frau, die Levin Wasser bringen wollte, wurde von den Novizen mit groben Worten vom Hof geschickt. Lis krampfte es das Herz zusammen, als sie ihren Bruder sah. Sie musste sich zwingen, nicht zu rennen, als
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