Die Rückkehr der Zehnten
sie auf der Treppe vor einem Haus aß.
Gegen Abend saß Levin immer noch vor der Holzstatue. Der Innenhof des Priesterhauses war leer. Die unzähligen Menschen, die Poskur im Laufe des Tages ihre Aufwartung gemacht hatten, waren nach Hause gegangen und hatten ihre Opfergaben – Schalen mit Glasperlen, Bronzeschmuck und Früchten – in respektvoller Entfernung von Levin abgelegt.
Levins Blick war starr auf die Holzfratze gerichtet, er war blass vor Anstrengung und Müdigkeit, aber seine Lippen waren vor Entschlossenheit fest zusammengepresst. Als Lis in den Hof trat und ihn leise rief, antwortete er nicht. Schon wollte sie zu ihm gehen, als plötzlich Tschur neben ihr auftauchte und sie mit einer Geste zurückhielt. »Dein Herr betet«, fuhr er sie an. »Es gibt eine Zeit zum Beten und es gibt eine Zeit zum Reden. Lass ihn erst das eine beenden.«
»Aber er sitzt seit heute Morgen schon dort!«, erwiderte Lis und hoffte, dass er nicht bemerkt hatte, wie sehr sein plötzliches Erscheinen sie erschreckt hatte. Lauerte er immer im Schatten?
Der Novize lächelte nur kühl, als hätte sie etwas sehr Dummes gesagt. Erbost drehte sie sich um und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen. Mit entschlossenen Schritten ging sie zu Levin und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich komme später wieder«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Levin sah sie nicht an.
Als Lis bei Zlatas Haus ankam, ging die Sonne bereits unter. Schon von weitem sah sie, dass die Tür offen stand. Eine Bewegung hinter den Tüchern, die als Vorhänge und Mückennetze dienten, ließ sie innehalten. Eine Frau trat aus dem Haus. Sie war zierlich und hatte langes dunkles Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Lis wich rasch zur Seite in eine Gasse aus, als sie die Frau vom Marktplatz erkannte, und spähte vorsichtig um die Ecke.
Die Frau mochte dreißig Jahre alt sein. Obwohl ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den fein geschwungenen, schmalen Lippen sehr hübsch war, wirkte sie auf seltsame Art verhärmt. Unter ihrem schweren Goldschmuck, der ihr wie ein Schleier über die Stirn bis zu den Augen hing, sah sie traurig und ein wenig verbittert aus. Schon bei der kurzen Begegnung auf dem Marktplatz war Lis das Gesicht auf unbestimmte Weise vertraut vorgekommen. Nun wurde ihr mit einem Mal klar, dass es sie an die hölzerne Galionsfigur erinnerte, die sie im Museum in Piran betrachtet hatte. Sie hatte dieselben sehnsuchtsvollen Augen und denselben breiten Mund.
Hinter der Frau trat ein Wächter aus dem Haus und sah sich in der Gasse um. Lis drückte sich in einen Winkel, bis sie an ihr vorbeigegangen waren und hinter der nächsten Biegung verschwanden. Dann huschte sie über die Straße, auf die sich langsam die Schatten des frühen Abends zu senken begannen, und betrat leise das Haus der alten Priesterin.
Zlata lag in ihrem Bett und schlief. Rührend sah sie aus mit ihrem entspannten, faltigen Gesicht und dem halb offenen Mund. Ruhig lagen ihre Hände auf der bestickten Bettdecke. Lis fühlte sich an die alten Marktfrauen in Piran erinnert, die mit zahnlos lachenden Mündern ihr Gemüse anpriesen. Die alte Priesterin erschien ihr nicht viel anders als sie. Um sie herum standen wie eine Menagerie von skurrilen Krippenfiguren die Götterbilder aus Holz. Im Halbdunkel sah Poskurs Maul unheimlich und fast lebendig aus. Lis schauderte und stellte, so leise es ging, ihre Basttasche ab. Zum ersten Mal spürte sie, dass sie müde war, unendlich müde von dem Tag. Vorsichtig setzte sie sich an Zlatas Bett und rieb sich die Augen. Sie würde nur ein wenig verweilen, sagte sie sich, nur ein paar Minuten ausruhen, um dann wieder zum Priesterhaus zu gehen und zu sehen, ob Levin Eintritt gewährt wurde.
Die Kühle im Haus wirkte beruhigend und das Halbdunkel ließ Lis in einen angenehmen Dämmerzustand versinken. Zlatas leise Atemzüge wirkten wie eine einschläfernde Melodie. Als Lis die Augen schloss, kam es ihr vor, als würde sie in Onkel Mirans Gästezimmer liegen und Levins Atem lauschen. Gleich würde ihre Mutter die Tür öffnen und sie wecken. Es wurde ihr warm ums Herz, als sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich sah, die ernsten Augen und das zerzauste helle Haar. Wie gerne hätte sie sich jetzt in ihre Umarmung geflüchtet. Selbst eine traurige Mutter wäre ihr lieber gewesen als die Einsamkeit und Ungewissheit, die sie gerade spürte.
Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder aufschlug, war es finster. Undeutlich sah sie die Umrisse
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