Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
sie zu ihm ging.
    Der freundliche große Wit, der ihr gestern die Münzen in die Hand gedrückt hatte, stellte sich ihr in den Weg und machte ein beschwichtigende Geste. Trotz seiner Freundlichkeit war seine Absicht klar – er würde sie nicht zu Levin lassen.
    »Lass mich zu ihm, ich bin seine Dienerin!«, fuhr Lis ihn an. »Erkennst du mich etwa nicht?«
    »Er betet, Mädchen«, erwiderte der Novize mit einer Stimme, die ein wildes Pferd hätte besänftigen können. »Warte vor dem Tor, wenn du willst, aber störe ihn nicht!«
    Im Hintergrund stand Tschur und beobachtete die Szene voller Verachtung. Unauffällig gab er zwei Wächtern, die in der Nähe standen, einen Wink, woraufhin sie langsam näher kamen. Ihre drohenden Blicke ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht zögern würden, sie vom Hof zu schleifen, wenn sie sich widersetzte. Wütend funkelte Lis sie an.
    »Du musst die Seherin sein, die mit dem fremden Priester gekommen ist!«, sagte eine vertraute Stimme neben ihr. Erstaunt fuhr sie herum und sah Tona, die Wit zulächelte. »Meine Tante hat mich gebeten, sie zu fragen, ob sie ihr die Zukunft vorhersagen könnte.«
    Wit nickte erleichtert. »Geht nur. Hier ist für sie nichts zu tun.«
    »Gut, dann folge mir!«, sagte Tona und nahm Lis scheinbar freundschaftlich am Arm. Doch ihre Finger waren wie ein Schraubstock.
    Lis war so überrumpelt, dass sie sich ein Stück mitziehen ließ und erst beim Tor versuchte, sich aus Tonas Griff zu winden. »Lass mich los, ich muss zu Karjan!«, flüsterte sie.
    »Komm jetzt«, zischte Tona. »Du siehst doch, es hat keinen Sinn. Was denkst du dir dabei? Du schaffst es nur, die Aufmerksamkeit der Wächter zu erregen. Und Niam wird davon erfahren.« Energisch zog sie Lis zum Rand der Straße und ließ sie erst wieder los, als sie außer Sichtweite der Priester waren.
    »Siehst du, was sie mit Le… mit Karjan machen? Er fällt fast um vor Erschöpfung.«
    Tona sah sie verständnislos an. »Er ist ein Priester, oder nicht? Also besteht er seine Prüfung. Hat er nie gehungert, sich der Sonne ausgesetzt oder Verwundungen ertragen? Mir hat er erzählt, dass er vor den Kämpfen gegen die Sueben und die Avaren tagelang gehungert hat, um sich zu reinigen und Kraft zu sammeln.«
    Lis senkte den Kopf und hielt die Tränen der Wut zurück. Levin war so dumm, dass er sich auf diese Weise in Gefahr brachte, aber wenn sie nicht auffliegen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu schweigen und sein Spiel mitzuspielen. Tonas Sichtweise war völlig logisch, in ihren Augen war ihr Bruder ein Priester, für den solche Prüfungen zum Handwerk gehörten.
    Tona lachte und sah sie mit einem merkwürdig intensiven Blick an. »Man könnte meinen, du seist seine große Schwester und nicht seine Dienerin, Lisanja. Beschützt du ihn immer vor der Welt?« Ihr Gesicht wurde ernst. »Oder hast du in der Zukunft gelesen und Unheil gefunden?«
    Lis schluckte und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl es ihr schwer fiel. »Nein, Tona. Du hast Recht, ich mache mir zu viele Sorgen. Oh, schau dort!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete zu der Frau mit dem langen Haar und dem Goldschmuck, die sie gestern beim Verlassen von Zlatas Haus gesehen hatte. Mit einigen Frauen, die offensichtlich ihre Dienerinnen waren, ging sie über den Markt. Nun blieb sie an einem Schmuckstand stehen und betrachtete einen silbernen Spiralarmring.
    Tona folgte ihrem Blick.
    »Wer ist die Frau?«, wollte Lis wissen.
    »Oh, das ist Mokosch, die dritte Tochter von Fürst Dabog. Sie kommt häufig zu Zlata, um das Orakel der Nemeja zu befragen.«
    »Glauben viele an die Göttin Nemeja?«
    Tona schaute sie an, als habe sie gefragt, ob der Himmel blau sei. »Was ist das denn für eine Frage? Die Göttin Nemeja sorgt dafür, dass das Meer uns zu essen gibt. Manchmal verschlingt sie Menschen, aber tausendmal mehr gibt sie uns zurück. Außerdem ist sie die Schutzgöttin der Schwangeren und der Liebenden.«
    »Ist Mokosch denn verliebt?«
    Tona lachte. »Sie sieht nicht so aus, oder? Auf mich macht sie den Eindruck, unglücklich zu sein.« Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme. Plötzlich war sie so ernst, dass Lis schauderte. »Was ich dir jetzt erzähle, kleine Schwester, ist für die Seherin bestimmt und nicht für Lisanja, die Dienerin. Kannst du schweigen wie ein Stein auf dem Meeresgrund?« Lis nickte atemlos. Tona sah sich um und fuhr fort. Sie stand so nahe bei Lis, dass eine fuchsfarbene Locke ihre

Weitere Kostenlose Bücher