Die Rückkehr der Zehnten
geschah.
Bei Anbruch der Nacht war Wit vorbeigekommen und hatte ihr einen Becher Wein gereicht, den sie dankbar annahm, dann war sie im Priesterhof endgültig mit Levin allein. Nur ein schwaches Licht in einem der schmalen Fenster ließ darauf schließen, dass Tschur oder ein anderer Novize prüfte, ob Levin seinem Gebet treu blieb und wirklich nichts aß oder trank.
Von Zeit zu Zeit döste Lis ein und träumte von riesigen Muränen, deren nasse Körper um ihre Beine strichen. Gebogene Zähne blitzten ihr entgegen. Matej sah sie wütend an und schimpfte mit ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand, dann holte ein gewaltiger Donnerschlag sie in die Wirklichkeit zurück. Im Blitzlicht sah Levins Gesicht aus wie das eines Totenschädels.
Es musste schon weit nach Mitternacht sein, als der Himmel aufklarte und den Blick freigab auf einen breiten Sichelmond, dessen Licht in den Winkeln des Hofes Schatten und Gespenster beschwor. Lis zog ihr Schultertuch enger um die Arme. Die Fratze des Poskur schien sie mit schattenfleckigem Schlund höhnisch anzugrinsen.
Ein leises Klappen ertönte, dann strich etwas an ihr vorbei, das sie erstarren ließ. Unwillkürlich krampfte sie die Hände so heftig in ihr Schultertuch, dass ihre Fingernägel pochten. Einen Moment lang glaubte sie, so müde und schläfrig, wie sie war, dass es der schnelle Schritt des Todes war, der schon auf Levins Geist wartete. Vorsichtig hob sie im Mauerschatten den Kopf und erkannte, dass Niam direkt vor ihr stand. Er war allein. Offensichtlich hatte er sie nicht bemerkt. Fasziniert und atemlos betrachtete sie sein Gesicht. Aufrecht stand er da und rührte sich nicht, sein Raubtierblick war auf Levin gerichtet, der die Augen geschlossen hielt und immer wieder vor Erschöpfung das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Niam betrachtete ihn in aller Ruhe, wie ein strenger, aber gerechter Vater seinen fehlgeleiteten Sohn betrachten würde. Über diesen unerwarteten Ausdruck von Güte und Wohlwollen im Gesicht des mächtigen Priesters erschrak Lis mehr als über seine Härte.
Langsam ging Niam auf Levin zu. Als hätte der Junge die Anwesenheit des Priesters gespürt, der hinter ihm stand, verlor er langsam das Bewusstsein. Erst sank sein Kopf vornüber, dann wich die Spannung aus seinem Rücken und er kippte zur Seite. Lis sprang auf und schlug die Hände vor den Mund. Im Licht des grinsenden Mondes sah sie, wie der große Priester sich zu ihrem Bruder hinunterbeugte, ihn aufhob und auf seinen Armen zum Priesterhaus trug. Levins Kopf hing leblos herunter und nickte bei jedem Schritt, bis ihn der Schwellenschatten verschlang und die Tür mit einem dumpfen Schlag zufiel.
Mokoschs Träume
I
mmer wieder fragte Lis beim Priesterhaus nach Karjan, aber Wit, der als Einziger mit ihr sprach, beruhigte sie und sagte ihr, er habe nur Fieber und müsse sich ausruhen. Außerdem versprach er ihr, sie vorzulassen, sobald Karjan sich erholt haben würde.
Lis nutzte die Zeit, um den Bereich rund um den Priesterturm auszukundschaften. Hinter dem Palast entdeckte sie einen Pfad, der auf verschlungenen Wegen zur Stadtmauer führte. Tag und Nacht patroullierten auf ihr die Wächter. Weit hinten am Horizont, dort, wo Lis das italienische Festland vermutete, erhoben sich dünne Rauchsäulen. Zweifellos war es ein wartendes Heer, das sich dort sammelte. Seltsam erschien es ihr, dass sie an den Küsten keine Schiffe sah. Hatten sie sie bei Strunjan versteckt oder war das Erkundungsschiff doch eine geisterhafte Einbildung oder eine optische Täuschung gewesen? Schürte Niam vielleicht bewusst die Angst vor den Truppen, um seine Gläubigen um sich zu scharen und seine Macht zu mehren? Hielt er damit Fürst Dabog in Schach und sicherte sich bei der Bevölkerung eine Position, die ihm nach dem Krieg nutzen konnte?
Die Wachen auf der Stadtmauer beachteten Lis längst nicht mehr. Das Misstrauen, das ihr bei ihren ersten Ausflügen entgegengeschlagen war, hatte sich verflüchtigt und einem wohlwollenden Nicken Platz gemacht. Vielleicht mochten sie ihre Gesellschaft sogar, denn die Tage auf dem Wachposten hoch über der Stadt waren einsam. Es war ruhig, das Meer lag bleigrau und unbeweglich im Nebel und Regen. Bei einem ihrer Ausflüge auf die Stadtmauer entdeckte Lis Matej, der nicht weit von ihr in das Wasser starrte. Sein Blick war düster und seine Augen dunkler und tiefer als das Meer. Im Morgenlicht hatte seine Erscheinung etwas vom Auftritt eines einsamen Helden vor der
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