Die Rückkehr der Zehnten
Wange streifte. »Zlata hat es mir nicht erzählt, aber wenn die Göttin von ihr Besitz ergreift, dann spricht sie mit geschlossenen Augen. Vor wenigen Nächten hat die Göttin durch sie geklagt und ich habe den Worten gelauscht. Sie erzählte, dass Mokosch von Poskur gestraft wird. Seit ihrer Kindheit sucht er sie mit grässlichen Träumen heim. Fürst Dabog und ihre Geschwister dürfen es nicht erfahren. Sie muss schrecklich leiden.«
»Kennst du auch die anderen Kinder von Fürst Dabog?«
»Es leben nur noch vier von ihnen. Außer Mokosch sind es noch zwei Töchter – Zimzarla und Marzana, und der junge Fürst, Wit.« Sie beugte sich vertraulich zu Lis. »Als Buße für den Verrat seiner Mutter an Poskur wurde er schon als Kind zu den Priestern geschickt und hat sein Recht auf den Platz auf dem Fürstenthron für immer verloren. Du kennst ihn übrigens. Er ist ein Lernender im Tempel des Poskur.«
Lis zog verblüfft die Augenbrauen hoch, als sie den Namen endlich mit dem Gesicht des angehenden Priesters in Verbindung brachte. »Wit ist Dabogs Sohn?«
Tona nickte und konnte sich ein verschmitztes Augenzwinkern nicht verkneifen. »Du wirst ihn noch näher kennen lernen. Das Volk liebt ihn. Ach ja, und dann gibt es zum Beispiel noch Dabogs Schwiegersohn Woloss. Er war mit einer weiteren Schwester von Mokosch verheiratet, die vor fünf Jahren am Buchtfieber starb.«
Lis schwirrte der Kopf von den vielen Namen. Nachdenklich betrachtete sie das blasse, feine Gesicht der Fürstenprinzessin Mokosch, die sich tief über einen anderen Schmuckarmreif beugte. Warum wirkte sie so, als würde sie auf dem Markt nur eine Rolle spielen? Der bittere Zug um ihren Mund, die Sorge, die sich in ihrer leicht gebeugten Haltung spiegelte, alles erschien Lis auf unbestimmte Weise vertraut und seltsam nah. Am liebsten wäre sie hingegangen und hätte Mokosch nach ihren Sorgen und Befürchtungen gefragt, doch als die Fürstentochter einen Blick in ihre Richtung warf, drehte sich Lis rasch zur Seite und tat so, als würde sie die Tintenfische prüfen, die an einem Stand auf einer Holzplatte feilgeboten wurden.
»Heute findet eine Versammlung bei uns statt. Wir haben Kontakt zu weiteren Kurieren aufgenommen«, flüsterte ihr Tona zu. »Wirst du da sein?«
»Ich werde lieber in der Nähe von Karjan bleiben«, erwiderte sie. »Vielleicht benötigt er etwas.«
»Gut, dann bis morgen oder übermorgen, kleine Schwester!«, sagte Tona und strich ihr über die Wange. Als sie sich schon umgedreht hatte, schien ihr plötzlich etwas einzufallen, denn sie kam zurück und suchte umständlich in einer ihrer Taschen herum. Endlich fand sie, was sie suchte, und zog einen kleinen Lederbeutel heraus. »Hier, Lisanja«, sagte sie und reichte ihn Lis. »Vielleicht stimmt dich das ein bisschen fröhlicher.« Sie zwinkerte ihr zum Abschied zu und machte kehrt.
Lis sah, wie ihr flammendes Haar in der Menge verschwand, dann nahm sie den Beutel und schüttete den Inhalt auf ihre Handfläche. Im Vormittagssonnenschein strahlten ihr der Schädel und die winzigen weißen Knochen einer Eidechse entgegen.
Zum ersten Mal war die Nacht kühl und sternenlos. Kalt und unberechenbar pfiff die Burja über das Meer und brach sich an den Häuserecken. Ein kurzes, aber heftiges Sommergewitter hatte den Staub auf den Straßen und Plätzen in einen schmierigen Film verwandelt und Levins Mantel mit schmutzigem Wasser getränkt. Von ihrem Platz an der Mauer beobachtete Lis, wie der Regen über die aufgesprungenen Lippen ihres Bruders rann. Sie hoffte, die Kälte würde seine verbrannte Haut kühlen. Auf Levins Wangen hatten sich im Laufe des Nachmittags hässliche Brandblasen gebildet, aber er war sitzen geblieben, obwohl er immer wieder schwankte. Beim Anblick des ausgehungerten und durstigen Priesters waren schließlich auch die letzten Spötter verstummt. Die Schaulustigen betrachteten ihn nur noch ehrfurchtsvoll aus sicherer Entfernung und unterhielten sich leise. Seltsamerweise hatte Tschur das Tor zum Tempelinnenhof in dieser Nacht offen gelassen. Vielleicht sollte das ein Hinweis sein, dass es Levin freistand, jederzeit aufzugeben und zu gehen, ohne dass die Novizen ihm noch einmal Aufmerksamkeit schenken mussten.
Den Hohepriester Niam hatte Lis an diesem Tag nur einmal zu Gesicht bekommen. Ohne Levin zu beachten war er, von seinen Untergebenen gefolgt, über den Hof gegangen und im Priesterturm verschwunden. Seitdem saß sie neben der Mauer und wartete, dass etwas
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