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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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leuchteten im Halbdunkel der Hütte auf. »Wenn es eine Narbe ist, können wir sie weitaus schöner verdecken. Zeig endlich her, Mädchen!«
    Wut schäumte in ihren Adern auf, trotzig trat sie noch einen Schritt zurück. »Nein«, wiederholte sie. »Mein Halstuch bleibt, wo es ist. Oder gib mir ein anderes, das deiner Meinung nach weniger schäbig aussieht.«
    Seinem verkniffenen Mund sah sie an, dass der alte Mann nun ernsthaft böse wurde. Ohne weiter mit ihr zu diskutieren, trat er so flink an sie heran, dass sie stolperte. Ein winziges Messer blitzte in seiner Hand auf. Sie schrie auf, doch schon war er wieder bei der Truhe. In der Hand hielt er ihr zerschnittenes Tuch. »Mit dem Gewandmeister spaßt man nicht«, sagte er trocken und betrachtete fachmännisch ihr Feuermal, das offensichtlich zwischen ihren Fingern hervorleuchtete. »Ah, das ist es. Warum sagst du nicht gleich, dass du ein heiliges Zeichen trägst?«, fragte er beiläufig.
    Weil es kein heiliges Zeichen ist, hätte Lis am liebsten gerufen. Weil es peinlich und hässlich ist und jeder draufstarrt und sich über mich lustig macht. Weil die Jungen aus meiner Klasse mich Hühnerhals und Brandfleck nennen. Darum. »Weil ich eine Dienerin Swantewits bin und wir unsere Zeichen vor ungeweihten Augen verbergen müssen.« Und noch wütender fügte sie hinzu. »Swantewit wird dich dafür strafen, dass du seine Dienerin entweiht hast!«
    Firenc zuckte die Schultern. »Wenn es so ist, entschuldige ich mich und nehme die Strafe deines Gottes an. Allerdings flüstern mir meine Götter ein, dein Widerwille hat eher damit zu tun, dass du dein Zeichen selbst nicht gerne als geheiligt würdigst. Sonst würdest du dich nicht dafür schämen, was du offensichtlich tust, und es nicht hinter abgerissenen Tüchern verbergen.«
    Nun war Lis sprachlos.
    Firenc wühlte in der Truhe, wiegte den Kopf und zog ein goldenes und gelbes Kleid hervor, dessen Saum mit einer flechtenförmigen Verzierung geschmückt war. Perlen und kleine, durchbohrte Muschelschalen in einem tiefen Orangeton säumten den Ausschnitt am Hals. Lis musste zugeben, dass sie noch nie ein so prächtiges Kleid gesehen hatte. »Das wird dir passen«, sagte Firenc. »Du bist klein, aber das müsste kurz genug sein, damit du nicht stolperst.«
    Lis nahm den fein gewebten Stoff und befühlte ihn. Im Gegensatz zu ihrem groben Bauernkleid erschien er ihr weich und glatt wie Seide. »Und mein Hals? Ich brauche ein Tuch«, beharrte sie.
    Firenc verzog das Gesicht und winkte ab. »Kein Tuch, Mädchen. Kein Tuch, ich habe etwas anderes.«
    Er drehte sich um und griff in eine der Tonamphoren. Lis hörte es klirren, als er darin herumsuchte. Ihre Neugier wuchs. Schließlich richtete er sich wieder auf und zog etwas aus dem Gefäß hervor, das auf den ersten Blick seinem Bronzegürtel ähnelte. Doch als Firenc es an den Enden fasste und behutsam schüttelte, erkannte sie, dass es ein breiter, goldener Halsschmuck war. Etwa hundert dünne Goldplättchen klingelten wie Engelsglöckchen und ließen den Schmuck geheimnisvoll funkeln. Firenc hielt das Geschmeide an Lis’ Hals und sie befühlte es vorsichtig und stellte erleichtert fest, dass die dichten Goldplättchen das ganze Brandmal bedecken würden.
    Der alte Gewandmeister nickte zufrieden und grinste ein zahnloses Lächeln. »Viel besser so. Habe ich dich angelogen? Nein, Mädchen, nein.«
    Vorsichtig nahm er den Deckel des Schmucktopfes auf und rückte ihn über dem Gefäß zurecht. Lis nutzte diesen Moment, um sich verstohlen das Medaillon der Desetnica über den Kopf zu streifen und es in das Säckchen mit den Eidechsenknochen gleiten zu lassen. »Soll ich mich jetzt umziehen?«
    »Natürlich nicht!«, rief Firenc ungehalten. »Willst du aussehen wie eine verkleidete Rinderhirtin?«
     
    Der Baderaum im Keller des Palastes erinnerte Lis an die orientalisch inspirierten Wellness-Oasen in irgendwelchen Hochglanzkatalogen ihrer Tante. Gemeinsam mit einer Gruppe von Frauen war Lis in den großen unterirdischen Saal geführt worden, wo sarkophagähnliche Becken und Krüge mit frischem Süßwasser standen. Viel Wert auf Privatsphäre legten die Leute in Antjana auch beim Baden nicht. Nacheinander übergossen sich die Frauen gegenseitig mit dem parfümierten Wasser und rieben sich mit einer nach Bienenwachs und Lavendel duftenden Paste ein. Auch Lis bekam als erste Tat ungefragt einen Schwall kalten Wassers über die Haare und schrie unwillkürlich auf. Ihr Kleid war nass

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