Die Rückkehr der Zehnten
blieb einen Moment verdutzt stehen, dann fiel ihr nichts anderes ein, als ihnen zu folgen. Sie gingen durch das Tor, das Lis bereits kannte, und überquerten den Innenhof. Er war noch reicher geschmückt als am Tag zuvor. Im Laufe des Morgens hatten die Diener bunte Tücher aufgehängt und Blumenblätter auf den Boden gestreut. Felle lagen als Sitzgelegenheiten auf dem sonnenwarmen Boden. Der Duft von gebratenem Fleisch und Holzrauch wehte Lis entgegen. Bevor Niam mit den Priestern durch das Palasttor schritt, das vom Innenhof aus in die Räume führte, wo ihn schon eine Gruppe von Dienern erwartete, drehte er sich um und gab Lis ein Zeichen mit der Hand. Lis schaute in die angegebene Richtung und entdeckte im Seitengebäude eine schmale Tür, die offen stand. Gehorsam ging sie hinüber. Levin winkte ihr ein letztes Mal verstohlen zu, bevor er Niam folgte. Schon war sie wieder einmal allein.
Leise trat sie ein und fand sich in einer schmalen Kammer wieder, in deren Mitte eine Feuerstelle war. Mehrere Truhen standen in dem Raum, und in der Ecke entdeckte Lis eine Art Altar, auf dem Poskur und Nemeja standen, aber auch eine Vielzahl weiterer Figuren aus ganz unterschiedlichen Materialien. Einige waren aus Stoff und grober Schnur hergestellt oder von so ungeschickten Händen geschnitzt, dass sie wie laienhafte Voodoo-Figuren aussahen. Lis beugte sich über den Schrein und besah sich eine Korallenfrau, die üppige Brüste und einen Schopf Haare aus getrocknetem Tang hatte. Und ganz hinten stand eine offensichtlich neue Figur, deren Holz noch hell und feucht war und einen frischen Duft nach Zedernöl verströmte. Vier grimmige, filigrane Holzgesichter schauten in alle Himmelsrichtungen. In der Hand trug Swantewits Abbild etwas, das einem Horn glich. Lis konnte die kleine Statue vor lauter Erstaunen nur mit offenem Mund anstarren. Levin schien sich sehr gut mit Niam zu verstehen. Unwahrscheinlich gut!
»Jetzt ist nicht die Zeit zum Beten«, sagte hinter ihr eine knarzende Stimme.
Sie fuhr so schnell herum, dass sie beinahe die Figuren umgestoßen hätte. Die Korallenfrau mit den riesigen Brüsten wackelte.
»Habe ich dich erschreckt?«, sagte der zahnlose alte Mann. Wie der Diener der Priester trug auch er einen Gürtel, der mit Bronzeplättchen geschmückt war, doch er bewegte sich so geschmeidig, dass nur wenige klingelten, als er auf Lis zutrat. »Du bist die neue Dienerin, die Zimzarla gerufen hat?« Mit fachmännischer Miene betrachtete er sie von allen Seiten wie eine Kuh auf dem Viehmarkt.
»Nein, ich bin nicht die neue Dienerin«, erwiderte Lis ungehalten und drehte sich im Kreis, um ihn im Blick zu behalten. »Ich bin ein Gast der Priester Poskurs. Niam schickt mich. Bist du Firenc?«
»Ja, das bin ich. Soso, Niam schickt dich. Und was soll ich hier mit dir machen?«
»Mich für das Fest einkleiden«, antwortete sie.
»Wirklich.« Er kniff die Augen zusammen und schaute sie wieder ungeniert von oben bis unten an. Schließlich blieb er mit dem Blick an ihrem Halstuch hängen und schüttelte streng den Kopf. »Dann nimm das Tuch weg, Mädchen. Tücher sind etwas für alte Frauen.«
»Nein!«
»Was verbirgst du darunter? Einen Liebesfleck? Oder eine hässliche Narbe?«
Lis stolperte einen Schritt zurück und griff sich schützend an den Hals. »Nichts«, sagte sie mit fester Stimme.
»Die Diener haben von einer jungen Frau mit einem Halstuch erzählt«, murmelte er. Er runzelte die Stirn, dann schien ihm etwas einzufallen und ein breites Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ach du bist das!«, sagte er. »Warum habe ich es nicht gleich gesehen.« Freundlichkeit strahlte über sein herbes Gesicht. »Du bist die Seherin, die gestern bei Mokosch war. Es geht ihr etwas besser, seit du bei ihr warst. Ihre Dienerin sagte mir, dass sie heute fast die ganze Nacht schlafen konnte.«
Lis schoss die Röte ins Gesicht. Die Gerüchteküche kochte gut in diesem Palast. »Ja, ich habe ihre Träume gedeutet«, antwortete sie und hoffte, er würde ihr die Verblüffung nicht anmerken.
»Dann bist du die Dienerin dieses Priesters, den Niam als Gast aufgenommen hat. Ja, so passt es zusammen.« Zufrieden nickte er immer wieder und trat zu den Truhen und den Tontöpfen. »Warum willst du nicht, dass man deinen Hals sieht? Ich erlaube nicht, dass ein Gast des Hauses mit einem Altweibertuch auf das Fest geht. Das wäre eine Beleidigung der Götter«, plapperte er weiter, während er in der Truhe wühlte. Farbige Stoffe
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