Die Rückkehr der Zehnten
vor vielen Jahren in seinem Palast geboren worden war und die jetzt zurückkam, um seine Stadt zu vernichten. Und sie hätte Recht damit, schoss es Lis durch den Kopf. Noch ehe sie ihn zu Ende gedacht hatte, erschrak sie über ihren Gedanken. Nur weil ihr der schwache alte Fürst unsympathisch war, durfte sie ihm nicht den Tod wünschen!
Schuldbewusst sah sie zu Mokosch, die immer noch blass und wie gehetzt wirkte. Wie sehr sich alle vor der Rückkehr der Desetnica fürchteten! Wenn auch jeder aus einem anderen Grund. Diese Kriegerin ist mächtiger als alle hier, dachte Lis. So mächtig, dass Niam die Kuriere jagen und einsperren lässt und dieses Vorgehen mit dem Willen eines Gottes begründen muss. In Lis’ Augen schien die ganze Stadt seltsam zerbrechlich und durchsichtig zu werden. Ihr war, als lösten sich die Grenzen der Mauern endgültig auf, als schienen der Mond und der Fackelschein durch alles hindurch und legten die Dinge klar und offen dar: das zerbrechliche Geflecht zwischen den Menschen, ihre Ängste, ihr Machtstreben, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte. Für jeden bedeutete diese fremde Kriegerin, die Desetnica, etwas anderes.
Für die Krieger, die Dabog lauschten, war sie eine Gegnerin, wie sie schon viele bekämpft hatten, für Niam eine Bedrohung, für Dabog der Schrecken seiner schuldbeladenen Nächte, für Mokosch ein Albtraum, für Zoran eine Möglichkeit, die Geschicke der Stadt zu bestimmen und die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern – und für ihren Bruder Levin war die zehnte Tochter Teil eines Spiels. Oder war das Spiel für ihn in den wenigen Tagen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, zu etwas anderem geworden?
Nachdenklich betrachtete sie ihren Bruder und stellte fest, dass er ihr noch fremder vorkam als vor ein paar Tagen. Er ging völlig in seiner Rolle des ernsthaften und würdigen jungen Priesters auf. Als ihm Niam etwas zuflüsterte, nahm sie in seinem Gesicht eine nie gesehene Hingabe wahr, die sie beunruhigte. Fast vertraulich wirkte die Art und Weise, wie der alte Priester mit Levin sprach. Rasch wandte sie den Blick ab und zwang sich, sich wieder auf Fürst Dabog zu konzentrieren. Inzwischen hatte er eine Fackel ergriffen, sie am Feuer entzündet und reichte sie nun einem der Krieger. Die Menschen jubelten.
Durch das Palasttor drängten sich inzwischen Dutzende von Besuchern, die weniger festlich gekleidet waren. Fischer waren dabei, Handwerker und Frauen, die ihre Kinder auf der Hüfte trugen. Nun erhob sich auch Niam.
Die Leute, die während Dabogs Rede geflüstert und gekichert hatten, verstummten. Auf einmal war es im Hof so still, dass man nur das Knistern der Fackeln hörte. Niam lächelte und hob die Hände. Lis erschrak vor der Autorität, die der Priester ausstrahlte. Ob Dabog wusste, wie wenig Macht er im Vergleich zu seinem eigenen Hohepriester besaß? Deutlicher konnte dem alten Fürsten nicht vor Augen geführt werden, dass seine Worte sich verloren wie Steine im Meer.
Niam ist der wahre Herrscher, dachte Lis bei sich. Und die Menschen wissen das. Dabog ist schon lange abgesetzt, die Entscheidung ist nur noch die, ob Niam Herrscher wird oder die Desetnica. Darum geht es.
Die Statue Poskurs glänzte im Fackelschein. Unzählige andere Götterfiguren grinsten oder bleckten im unwirklichen Licht die Zähne. Lis suchte nach der Frauengestalt mit dem langen Haar und den riesigen Brüsten, doch sie war nicht darunter. Nemejas Statue war ebenso groß wie die von Poskur, doch Niams Priester hatten sie zu den niederen Göttern gestellt. Niemand hatte die alte Hohepriesterin zum Fest geladen, fiel ihr auf. Es war Poskurs Fest, Poskurs Krieg und immer mehr Poskurs Hof. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis Nemejas Mosaik im Palasthof entfernt wurde und Poskur als alleiniger Gott auch die anderen Götter endgültig verdrängt hatte.
Niam stimmte einen Gebetsgesang an. Seine Stimme klang erstaunlich klar und schön, sie klang dunkel und beruhigend, fast hypnotisierend. Voller Widerwillen ertappte sich Lis dabei, dass sie ihm gerne zuhörte. Nach und nach fielen die anderen Priester ein, dann die Krieger und die Frauen. Ihre Stimmen schienen im Himmel widerzuhallen und ließen Lis erschauern. Sie spürte, wie dieser Rhythmus sie gefangen nahm, durch ihr Blut pulste, ihr Lust machte, mitzutanzen und sich treiben zu lassen. Wie auf einen geheimen Befehl sprangen überall Tänzer auf und begannen sich zu drehen, Arme und Haare wirbelten. Lis sah
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