Die Rückkehr der Zehnten
machtgewohnten, selbstsicheren Schritt des Hohepriesters, den er sich so mühelos angewöhnt hatte, als wäre er nie der schlaksige Teenager gewesen, der nächtelang in verrenkter Haltung vor dem Computerbildschirm gekauert hatte. Er sprach nicht mehr schmeichelnd und gewinnend, sondern direkt und mit einer frappierenden Offenheit. Lis kam er ebenso fremd vor, wie sie ihm in der Tracht der Antjaner erscheinen musste.
Nun war sie unendlich froh, mit Levin allein reden zu können.
Er stand bei einem schlanken weißen Pferd mit einem langen Hals und flocht Pfeilspitzen und durchbohrte Muscheln in die Mähne ein. In der Ecke des Stallraumes lagen wie auf einem kleinen Schrein ausgebreitet die heiligen Gegenstände, die sie gemeinsam mit Tona und den anderen in Zorans Hütte angefertigt hatten.
»Levin, ich wollte schon früher mit dir sprechen, aber Wit sagte mir, du willst erst die Gebete beenden«, sprach sie ihn an.
»Ich bin ein Priester. Es würde auffallen, wenn ich den Dienst an den Göttern nicht versehen wollte.«
Unwillig sprach er auf Deutsch, langsam und leise, als wollte er um jeden Preis verhindern, dass die Novizen die fremde Sprache hörten. Wieder fiel Lis auf, dass er mühsam nach Worten suchte und sie, wenn er sie nicht fand, ungeschickt umschrieb. Es beunruhigte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
»Hast du erfahren, was mit den Kurieren ist, Levin?«
»Neun haben sie bis jetzt, mit den zwei Kurieren, die sie damals schon gefangen genommen hatten«, sagte er. »Den jüngeren von beiden haben sie gestern befragt, er ist erst heute wieder aufgewacht.«
Lis wurde übel, sie ließ sich zu Boden gleiten und zog die Knie an die Brust. Das Pferd schüttelte die Mähne, dass die eingeflochtenen Gegenstände klapperten. »Befragt? Du meinst gefoltert!«
Levin zuckte die Schultern. »Damit haben sie sich natürlich keinen Gefallen getan, er konnte nicht sprechen. Er hat die Botschaft nicht verraten. Der ältere Kurier scheint stumm zu sein. Ein Teil der Botschaft ist eine Art Landkarte, die die Priester bei dem älteren Kurier gefunden haben. Sie ist auf Leder gemalt und sieht aus wie der Umriss eines Landes oder eines Gebiets. Die Priester beraten Tag und Nacht, was die Zeichnung bedeuten könnte.« Nachdenklich zog er die langen Strähnen des Mähnenhaars glatt und fuhr fort: »Aber selbst wenn der jüngere Kurier nicht niedergeschlagen worden wäre, glaube ich nicht, dass er sein Geheimnis verraten hätte. Es ist erstaunlich, wie viel ein Mensch für seinen Glauben und seine Überzeugung erträgt. Er verbirgt irgendetwas, was nicht nur mit der Desetnica zu tun hat.«
Lis machte schon den Mund auf, um ihm von Mokoschs Kind zu erzählen, aber dann überlegte sie es sich und folgte dem unbestimmten Gefühl, dass es weder Mokosch noch dem Kurier etwas nützen würde, wenn Swantewits Priester von ihrem Geheimnis wusste. »Niam ist eine Bestie«, flüsterte sie. »Wir müssen die Kuriere befreien, bevor er ihnen noch Schlimmeres antut.«
Levin war stehen geblieben und funkelte sie an. »Er ist keine Bestie, Lisanja. Er ist Priester und ein ausgezeichneter Stratege. Und Antjana ist bedroht. Es ist Kriegsstrategie, dass er herausfinden muss, was für eine Botschaft die Kuriere haben. Zoran würde dasselbe mit den Priestern tun, wenn er die Macht dazu hätte.«
Lis sah ihn lange an. Er wich ihrem Blick aus und machte sich wieder an dem Pferd zu schaffen. »Rück schon damit raus, Levin«, sagte sie nach einer Weile. »Was ist los mit dir? Du bist hier, um an die Kuriere heranzukommen. Nicht um zu beten und Pferdeverschönerung zu betreiben.«
Er fuhr herum wie von einer Schlange gebissen. Wut ließ seine Unterlippe zittern. »Das ist ein heiliges Pferd!«, flüsterte er so deutlich, als würde er mit einem dummen Kind sprechen. »Und die Verschönerung, wie du es nennst, ist die Vorbereitung auf die Orakelzeremonie. Dieses Pferd ist ein Gefäß Swantewits! Ich bin Niam sehr dankbar, dass er mir das Pferd gegeben und Swantewit unter die Stadtgötter aufgenommen hat.«
Lis blieb der Mund offen stehen. »Du bist Niam dankbar? Diesem Verräter? Diesem machtgierigen Lügner? Komm wieder auf den Teppich, großer Priester«, sagte sie.
»Ich sage es dir noch einmal. Er ist kein Verräter«, beharrte Levin. »Sieh doch auch einmal die andere Seite. Er versteht es, ein Volk zu führen und seine Macht einzusetzen – eine Eigenschaft, die man bei dieser trägen, überfressenen Fürstenfamilie nicht
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