Die Rückkehr der Zehnten
Magen, am liebsten hätte sie geweint, doch ihre Anspannung war zu groß.
Wieder blinzelte er in den Nebel, als versuchte er etwas zu erkennen. Der Leuchtturm strahlte gespenstisch im Mondlicht. »Ich heiße Karjan«, erwiderte er mit ausdrucksloser Stimme. »Und ich weiß nicht, wovon du redest. Ich sehe nichts im Nebel.«
Swantewits Prophezeiung
E
ine riesige Menschenmenge stand im Priesterhof unter einem diesigen Sommerhimmel. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der rosafarbene Schleier, der sich am Himmel hinter dem Priesterturm zeigte, war der Vorbote der Sonne, die sich in wenigen Augenblicken rot und eindrucksvoll über der Stadtmauer erheben würde.
Lis fröstelte nicht nur wegen der kalten Morgenluft. Ein flaues Gefühl im Magen hatte sie diese Nacht kaum schlafen lassen. Auf ihrem Fell in der Dienerkammer des Palastes, in der sie auf Mokoschs Wunsch seit einigen Tagen schlief, war sie wach gelegen und hatte mit der Erkenntnis gehadert, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gewesen war wie jetzt. Sie versuchte sich einzureden, Levin konnte nichts dafür, dass er alles vergaß, aber sie wusste, es war eine Lüge, eine Entschuldigung für den Verrat, den sie fühlte. Levin wollte vergessen, das war der springende Punkt. Stunde um Stunde hatte sie darüber nachgedacht und ungeduldig den ruhigen Atemzügen der anderen Frauen gelauscht. Wie konnten die Dienerinnen nur schlafen im Angesicht des Krieges, der ihnen bevorstand?
Einige der Mädchengesichter entdeckte Lis in der Menge, als sie sich genauer umsah. Gespannt versuchten sie einen Blick auf den freien Platz vor dem Priesterhaus zu erhaschen. Aber selbst Lis sah kaum etwas von dem, was sich vor Poskurs Pavillon abspielte, denn obwohl Wit dafür gesorgt hatte, dass sie bis ganz nach vorne durchgelassen wurde, hatten die größeren Leute sie wieder nach hinten geschubst.
Krieger drängelten rechts und links von ihr, der Geruch nach Haarfett, Kalkpulver und Fell stieg ihr in die Nase und machte ihre Kopfschmerzen noch schlimmer, als sie schon waren.
Nicht weit von Poskurs Schrein entfernt standen Dabog, seine Kinder und Schwiegerkinder und eine ganze Schar von Enkeln. Wie immer hielt sich Mokosch etwas abseits und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. Sie wirkte angespannt, aber ruhig. Als ihr Blick dem von Lis begegnete, huschte ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Getuschel erhob sich und das Gedrängel wurde mit einem Mal zu einem wüsten Schieben und Schubsen, als Niam mit Levin und den anderen Priestern aus dem Priesterhaus trat. Wie auf einen geheimen Befehl schoben sich die dicht gedrängten Körper auseinander und schufen eine Gasse für die Prozession. Lis stieß mit dem Fuß gegen einen Speerschaft und stolperte. Eine behaarte Hand griff nach ihrem Arm und zerrte sie wieder auf die Beine. Sie dankte dem Krieger, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte zwischen den Köpfen hindurch. Manchmal hatte es Vorteile, dass ihr Bruder so groß war, so konnte sie ihn mühelos zwischen den zierlicheren Antjanern ausmachen. Er führte das weiße Pferd, das er tags zuvor geschmückt hatte, am langen Zügel hinter sich her. Direkt hinter ihm ging Tschur. Er trug ein undurchdringliches Gesicht zur Schau und hatte seine Hände in den weit fallenden Ärmeln versteckt. Lis war unbehaglich zumute, als sie ihn so nah bei ihrem Bruder sah. Unwillkürlich formte sich vor ihrem geistigen Auge das Bild, wie Tschur plötzlich ein Messer aus dem Ärmel zog und es Levin in die Rippen stieß.
Levin ging sehr aufrecht und würdevoll, sein Priestermantel wallte bei jedem Schritt. In der rechten Hand trug er seinen Hohepriesterstab mit dem Abbild Swantewits. Die Schmuckplatte des Zaumzeugs, das die Stirn des Schimmels bedeckte, war aus unzähligen Silberspiralen geschmiedet, in deren Mitte je ein Bernstein prangte. Die Hufe des Pferdes waren vergoldet, die Mähne schwer von den Pfeilspitzen und mit dem Goldstaub bepudert, mit dem sich auch die Frauen schmückten. Brav ging es mit wippendem Kopf neben Levin her, der es in die Mitte des Platzes führte. Dort angekommen stampfte es auf und schüttelte schwerfällig den Kopf. Goldstaub flirrte durch die Luft und blinkte im gleißenden Morgenlicht. Die Menschen murmelten.
Levin ließ die Zügel des Pferdes los. Es blieb sofort wie angewurzelt stehen und spitzte die Ohren. Würdevoll hob Levin seinen Priesterstab und deutete damit auf die Stadtmauer. Stille senkte sich über den Platz,
Weitere Kostenlose Bücher