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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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auch gesehen. Er… sah aus, als hätte er eine blaurote Maske um die Augen. Blut rann aus seinem Ohr. Niam meinte, die Wächter hätten ihn beim… Verhör so stark verletzt, dass die Kopfverletzung ihn umgebracht hat.«
    »Und er war ganz allein.« Lis drückte das Mitleid mit dem alten Mann die Kehle zu. »Was ist mit dem anderen Kurier?«
    »Er lebt noch. Doch er schweigt – Niam hat das Orakel befragt. Die Hinrichtung findet übermorgen statt, am Tag der Ahnengeister.«
    »Übermorgen schon?«
    »Hast du Zoran und den anderen Bescheid gesagt?«
    Sie nickte stumm.
    »Ich werde morgen bei Sonnenaufgang Swantewits Orakel sprechen. Mehr kann ich nicht für euch tun. Das andere entscheiden die Götter.« Er blickte zum Himmel, ganz der junge Priester, wieder fremd und unnahbar.
    »Levin«, sagte sie eindringlich, »du sprichst, als würdest du glauben, dass du wirklich ein Priester bist. Es ist eine Rolle, die du dir ausgesucht hast. Spiel nicht damit.«
    Sein Gesicht war undurchdringlich. Dennoch entging ihr nicht, wie er verärgert die Augenbrauen zusammenzog. Früher hätte er sie jetzt angeschrien, aber nun wandte er sich nur von ihr ab. Sein Mantel wehte im Nachtwind, er hätte eine Figur aus einem Fantasy-Film sein können. Für einen Moment glaubte Lis verrückt zu werden. Ein Mensch war gestorben und Levin hatte nichts anderes im Kopf als sein Orakel. Und dennoch – in ihrer eigenen Zeit war dieser Kurier schon lange tot, ebenso wie Tausende anderer Menschen, wie die Sarazenen, wie Mokosch und die Desetnica selbst, nicht einmal eine Erinnerung war von ihnen geblieben. Lis wusste nicht, warum sie plötzlich wütend wurde, vielleicht war es die Wut auf Levin und seine Bereitschaft, in diesem Spiel mitzumachen, alles geschehen zu lassen, seine Begeisterung, in seine Rolle zu schlüpfen und sich darin wohl zu fühlen wie in einem Lieblingspullover. Seine Bereitwilligkeit, das Seil seiner Realität einfach loszulassen, während sie, Lis, über dem Abgrund hing und verzweifelt versuchte, sie beide wieder hochzuziehen.
    Sie trat an ihn heran und nahm ihn bei den Schultern. Widerwillig drehte er sich um und schaute sie von oben herab an, was bei seiner Größe nicht schwer war. »Das ist kein Spiel«, sagte sie und legte in ihre Worte alle Bestimmtheit, alle Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte.
    Er lächelte und trat einen Schritt zurück. Ihre Hände glitten von ihm ab. »Es ist umgekehrt«, sagte er ebenso bestimmt, als sei sie diejenige, die nichts verstand, die verrückt war und in der falschen Welt lebte. »Das andere Leben habe ich geträumt, dies hier ist meine wahre Bestimmung. Ich wurde geboren, um nach Antjana zu kommen und mein Schicksal zu finden. Swantewit hat mich hierher geführt, er wird mir den Weg weisen.« Seine Stimme wurde leiser, beinahe sanft. »Durch Niam habe ich erkannt, wer ich bin. Ich bin ein Priester, Lisanja, ein Magier. Ich werde die Macht haben, die Wolken zu rufen, und ich habe bereits die Macht, als Gefäß des großen Viergesichtigen seinen Richterspruch über Sieg oder Niederlage zu hören.«
    Lis spürte, wie das Entsetzen an ihr hochkroch. Nebel leckte über die Stadtmauer. Lis wandte den Kopf und sah den Leuchtturm von Piran durch die verwehten Schleier schimmern. Sie klammerte sich an diesen Anblick wie an einen letzten Strohhalm. »Da schau!«, flüsterte sie. »Das ist der Leuchtturm. Dort standen wir, bevor wir über den Holzpfad nach Antjana gingen. Wir waren zu Besuch bei Onkel Miran und Tante Vida. Du hast Bojan und Sascha dein Video vorgeführt. Unser Vater ist in München geblieben, erinnerst du dich daran?«
    Er sah an ihr vorbei in den Nebel und blinzelte. »Du kannst es nicht vergessen haben, Levin. Unsere Eltern – du weißt noch, wie sie heißen, nicht wahr?«
    Er zögerte. Angst flatterte in ihrem Bauch hoch, als sie sah, wie angestrengt er sich zu erinnern versuchte. Mühsam brachte sie ihre zitternde Stimme unter Kontrolle und stellte ihre Frage so ruhig sie konnte. »Wie heißt unser Vater, Levin?«
    »Er heißt… Kajetan?« Es war eher eine Frage als eine Feststellung, und sie traf Lis härter, als wenn er sie angeschrien hätte.
    »Peter heißt er«, flüsterte sie. »Du hast es vergessen! Aber du weißt noch, dass ich Lis bin, deine Schwester?«
    Er betrachtete sie, als wäre er sich immer noch nicht sicher, ob sie verrückt war oder er. »Bist du das?«, fragte er.
    »Levin, bitte nicht!« Verzweiflung rammte ihr eine eisige Faust in den

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