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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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während alle gebannt darauf warteten, dass die Sonne erschien. Und da war sie – ihr gleißender Rand zeigte sich über der Mauer, dann schob sie sich genau neben dem Priesterturm höher. Levin verbeugte sich vor Poskurs Zeichen, klopfte mit seinem Stab auf den Boden und murmelte etwas, das sich anhörte wie eine dumpfe Beschwörung. Dann ging er mit betont langsamen Schritten an den Reihen der Menschen entlang, die vor dem fremden vierköpfigen Gott zurückwichen.
    Ein massiger Mann stieß beim Zurückgehen gegen Lis. Mit dem Ellenbogen wehrte sie sich dagegen, wieder weiter nach hinten gedrängt zu werden, und ergatterte einen Platz zwischen zwei kleineren Kriegern.
    »Karjan seeeem!«, rief Levin mit einer Stimme, die so fest und selbstsicher klang, dass Lis befürchtete, ihr Bruder sei nun völlig verschwunden und habe endgültig diesem fremden Priester Platz gemacht.
    Nun trat auch Niam vor und ergriff das Wort. »Volk von Antjana«, sagte er. »Ihr wisst, wie es um uns steht. In den vergangenen Tagen wurden Bauern und Fischer getötet und Vorräte vernichtet oder gestohlen. Jeden Augenblick können die Sarazenen angreifen und wir sind bereit! Sind wir dazu entschlossen, sie an Antjana abprallen zu lassen und sie im Meer zu ertränken wie nutzlose alte Hunde?« Das ohrenbetäubende Getriller und Kampfgebrüll, das einsetzte, ließ Lis zusammenfahren und sich die Ohren zuhalten. Mit einer erhobenen Hand brachte Niam die Menge wieder zum Schweigen. »Poskur, der Gott der Rache, und Swantewit, der Gott des Krieges – beide werden an diesem Tage unser Geschick leiten«, sagte er. Mit einer effektvollen Geste trat er einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf das weiße Pferd und auf Levin. Seine Stimme wurde leiser und so feierlich, dass selbst Lis ein Schauer über den Rücken rieselte. »Karjan, der Hohepriester aus Arkona, kam zu uns, um seine Prophezeiung zu sprechen. Ein Gott des Krieges, ein Gott der Macht, ein Gott, der sich mit Poskur verbündet hat, um uns beizustehen. Karjans Worte werden uns hier und jetzt den Willen Swantewits übermitteln. Wir wollen sehen, was dieser Gott des Krieges uns für Nachrichten bringt.«
    Levin trat vor und nickte. Seine Stimme klang nicht ganz so selbstbewusst wie die von Niam. Lis glaubte ein wenig Nervosität herauszuhören. Kein Wunder, das hier war seine Prüfung. »Ihr kennt mich als Schüler Niams, Volk von Antjana. Fern von hier, in Arkona, vor der Küste eines Landes, das sich Rügen nennt, ereilte mich der Ruf dieses großen Priesters und Zauberers. Poskur erschien mir im Traum und rief mich, und mein Gott, Swantewit, der Große, der Grausame, wies mir den Weg zu seinem feurigen Gefährten. Heute werde ich das heilige Orakel befragen.«
    Lis schloss einen Moment die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Levin immer noch auf ihrer Seite war und befehlen würde, die Lanzen niederzulegen. Es war riskant, auch für ihn, das wusste sie nur zu gut. Würde er sich dieser Gefahr stellen oder doch lieber die Kuriere verraten? Beim Blick auf sein entschlossenes Gesicht war sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher.
    Er wies auf das weiße Pferd. Ein weiteres Raunen ging durch die Menge. Die Krieger sahen sich beunruhigt an. In Fürst Dabogs Gesicht entdeckte Lis einen Ausdruck, den sie schwer deuten konnte. Noch nie hatte sie den kraftlosen, großen Mann so konzentriert gesehen. Der Ausdruck von gelangweilter Gleichgültigkeit war verschwunden, Dabog schien zu lauern. Unbewusst zog sich Lis ein wenig zurück.
    »Keine Hand darf ein Schwert berühren, während das Orakel spricht!«, rief Levin nun. »Legt eure Waffen ab vor Poskurs Bild!«
    In diesem Augenblick erfuhr Lis mit eindrucksvoller Deutlichkeit, wie groß der Unterschied zwischen Stille und Totenstille sein konnte.
    Niam runzelte die Stirn, alle Krieger blickten auf ihn, nicht auf Dabog, und schlossen ihre Fäuste fester um die Waffen.
    »Nein, Niam«, sagte Dabog. »Meine Krieger legen ihre Waffen nicht ab. Auch nicht für einen Priester, mag sein Gott noch so mächtig sein.«
    In Niams Gesicht zuckte ein kurzes Lächeln auf. Lis konnte geradezu sehen, wie sehr es ihn reizte, seine Macht zu beweisen. Wie alle eitlen Herrscher konnte er nicht widerstehen. Wie beiläufig verschränkte er die Arme und wandte sich an die Menge. »Legt die Waffen nieder«, sagte er freundlich.
    Nach einem kurzen Zögern kam Bewegung in die Krieger. Erst vereinzelt, dann immer geschlossener drängten sie sich um

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