Die Rückkehr Des Bösen
lange Ärmel tragen? An einem heißen Julitag?
Sie musterte sein Gesicht. Der Schnitt an der Wange rührte wahrscheinlich von seiner morgendlichen Rasur her. Sein offener Hemdkragen erlaubte ihr einen Blick auf seinen Hals. Eine Frau, die gewürgt oder erstickt wurde, würde sich vehement wehren, würde verzweifelt um sich schlagen und kratzen – es sei denn, der Täter konnte sie überraschen. Sie erinnerte sich daran, wie Nash laut darüber nachgedacht hatte, wie es sich wohl anhören würde, „wenn ein Genick bricht“. Doch im gleichen Moment fragte sie sich, ob sie mit ihrem Verdacht, einer ihrer Klienten käme womöglich als Täter infrage, nicht über das Ziel hinausschoss.
„Hab ich nicht Recht, Dr. Patterson?“ hörte sie Nash fragen und erschrak darüber, wie sehr sie sich von ihren Gedanken hatte ablenken lassen.
„Entschuldigung. Wie meinten Sie?“
„Warum ältere Frauen so scharf auf junge Burschen sind. Nicht nur wegen des Machtgefühls. Sondern weil sie angehimmelt werden wollen. Ist es nicht das, wonach sie suchen?“
„Haben Sie sie angehimmelt?“
Ehe ihr seine Augen die Antwort hätten verraten können, hatte er schon den Blick abgewandt. Was versuchte er da zu verbergen? War es Verlegenheit oder sein schlechtes Gewissen? Jedenfalls hatte ihn die Frage irritiert.
„Ich fürchte, damit müssen wir uns nächstes Mal beschäftigen“, beendete er schließlich sein Schweigen, indem er mit einem Blick auf seine Armbanduhr die Rollen verkehrte und aufstand. „Ich werde mir Mühe geben, dann weniger ausfallend zu sein“, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das allerdings eher einem Feixen glich. Es war wohl weniger als Versprechen gemeint, sondern offenbarte vielmehr, wie toll er seinen heutigen Auftritt fand.
„Das liegt ganz bei Ihnen“, gab Gwen zurück und erhob sich ebenfalls aus ihrem Sessel. Sie ließ es grundsätzlich nicht zu, dass ihre Klienten sie körperlich überragten. „Denken Sie immer dran, Rubin. Alles, was Sie tun, liegt letztlich allein bei Ihnen!“
Er sah sie unverwandt an und ließ seinen Blick über ihre Bluse streifen. Dunkelgraue Augen, die Gwen an einen Wolf gemahnten. Wollte er sie damit vielleicht daran erinnern, dass er Frauen generell – wie hatte er es noch selbst formuliert? – „als potentielle Beute“ sah?
„Bis zum nächsten Mal“, sagte er dann und wandte sich zum Gehen.
Sie wartete, bis die Tür hinter ihm zugefallen war. Erst dann begann sie mit ihren Notizen, schrieb fieberhaft jede einzelne Beobachtung nieder, ohne Rücksicht darauf, ob sie ihr zum jeweiligen Zeitpunkt wichtig erschienen war oder nicht. Irgendein Hinweis würde sich im Laufe der Zeit schon ergeben. Vielleicht, so ihre Hoffnung, würde etwas, das Maggie im Zuge der Obduktion entdeckte, ein neues Licht auf ihre Beobachtungen werfen! Gerade blätterte sie die sechste Seite ihres Stenogrammblocks um, als ihre Bürogehilfin ihr mit einem Summton den nächsten Klienten ankündigte.
Gwen riss die Seiten von dem Block und schob sie in einen Aktenhefter. Als James Campion eintrat, kreisten ihre Gedanken noch immer um Rubin Nash.
„Tag, Dr. Patterson.“
„James.“ Sie wies auf den Sessel, obwohl sie wusste, dass er so lange stehen bleiben würde, bis sie selbst Platz nahm. Er war höflich, stets Kavalier – ein frappierender Gegensatz zu Nash. Ganz zu Anfang hatte er ihr erzählt, die Schwestern im „Blessed Sacrament“-Kloster hätten in ihrem Bemühen, ihm gute Manieren und Respekt einzubläuen, ganze Arbeit geleistet, auch wenn sie in anderer Hinsicht bei ihm versagt hatten.
Gwen setzte sich und bedeutete ihm mit einem Nicken, dasselbe zu tun. Er streckte die langen Beine aus und schlug sie übereinander. Was Lässigkeit betraf, war das für ihn das Höchste der Gefühle.
Mehr denn je fiel Gwen der starke Gegensatz zwischen den beiden Männern auf, vermutlich auch deshalb, weil sie die beiden bisher noch nie in zwei aufeinander folgenden Sitzungen gesehen hatte. So prahlerisch und selbstherrlich Nash auftrat, so sehr stellte James Campion das genaue Gegenteil dar. Er war introvertiert, gehemmt und trug sich oft mit Selbstmordgedanken. Dass er stets, egal bei welchem Wetter, langärmelige Oberhemden trug, hatte er ihr gegenüber damit begründet, dass er die Spuren einer nervösen Angewohnheit verbergen wolle, dieses Kratzen, das er einfach nicht in den Griff bekam. Gwen war der Schorf an seinenHandgelenken bereits während ihrer ersten Sitzung aufgefallen. Aber
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