Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
nach, mit welchem Marmor sie ihren Swimmingpool auslegen lassen sollen, andere verhungern auf der Straße. Sind die Reichen deshalb böse und die Armen Heilige? Ich glaube nicht. Hier sind komplizierte karmische Zusammenhänge am Werk. Jeder Mensch spielt seine Rolle. Jeder wird in die Lebensumstände hineingeboren, die eine Aufgabe für ihn darstellen und ihm die Möglichkeit geben, sich weiterzuentwickeln. Wer in diesem Leben ein Bettler ist, war in einem früheren Leben vielleicht wohlhabend. Es hat schon immer Ungleichheit auf der Welt gegeben, und solange das Bewußtsein der Menschheit nicht mindestens bis ins dritte Stockwerk aufgestiegen ist, wird es sie auch weiterhin geben.
Mit der Zeit bin ich so weit gekommen, daß ich meine Schuld, im Wohlstand zu leben und genug zu essen zu haben, akzeptieren konnte. Wie könnten wir sonst je einen Bissen zu uns nehmen, während andere Menschen verhungern?«
»Und wie wirst du mit deiner Schuld fertig?« fragte ich sie.
»Schon diese Frage zeigt, daß dein Herz dabei ist zu erwachen«, sagte sie. »Ich werde damit fertig, indem ich gut zu den Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung bin. Ich akzeptiere die Rolle, die mir bestimmt ist. Und ich schlage dir vor, das gleiche zu tun. Es ist gar nichts dagegen einzuwenden, daß ein friedvoller Krieger gut verdient, tut, was ihm oder ihr Spaß macht, und dabei gleichzeitig anderen Menschen dient. Alle drei Elemente sind wichtig! Es ist völlig in Ordnung , für sein Wohl zu sorgen, zu lieben, glücklich zu sein – trotz all der Probleme dieser Welt.
Du mußt dein eigenes Gleichgewicht finden. Tu, was du kannst; aber nimm dir auch Zeit, zu lachen und das Leben zu genießen. Deine Lebensweise wird sich ganz von selbst ändern, wenn dein Bewußtsein im Turm des Lebens höher emporsteigt. Deine Ansprüche
ans Leben werden dann einfacher, und deine Prioritäten – wie du deine Zeit, dein Geld und deine Energie einsetzen sollst – ändern sich.«
»Ich habe hohe Ideale, Mama Chia. Und ich möchte ihnen näherkommen. Ich will mich verändern.«
»Der erste Schritt zur Veränderung«, sagte sie, »besteht darin, anzunehmen, wo du im Augenblick stehst. Nimm deinen Entwicklungsprozeß voll und ganz an. Solange du negativ über dich urteilst, erreichst du nur, daß deine alten Verhaltensmuster so bleiben, wie sie sind, denn dein Basis-Selbst nimmt dann eine Abwehrhaltung ein und kann sehr störrisch werden. Aber wenn du dich selbst akzeptierst, so wie du bist, gibst du dem unbewußten Kind in dir den Spielraum, den es braucht, um zu wachsen. Aber wann das geschieht, das liegt einzig und allein in der Hand Gottes – nicht in deiner.«
16
DUNKLE WOLKEN AM STRAHLENDEN HIMMEL
Hier sind die Tränen aller Dinge;
Die Sterblichkeit berührt das Herz.
VERGIL, ›Hirtengedichte‹ (Eklogen)
Ich hatte alles in mich aufgenommen, was ich im Augenblick erfassen konnte; das spürte Mama Chia genau. Während der letzten paar Kilometer ruhte ich meinen Kopf und mein Herz aus – aber meine Füße konnte ich leider noch nicht ausruhen. Mittlerweile lief ich auf dem Zahnfleisch; mich zog eher die Schwerkraft bergab, als daß meine Energiereserven mich in Gang gehalten hätten. Wieder konnte ich es kaum glauben, daß diese alte Frau all die vielen Kilometer Schritt für Schritt hinkend zurückgelegt hatte.
Als wir nur noch etwa einen guten Kilometer von meiner Hütte entfernt waren, schlug Mama Chia einen anderen Weg ein als sonst. Ein paar Minuten später kamen wir zu einer kleinen Hütte neben einem Bach, der über Felsen in einen Abgrund stürzte. Wir näherten uns der Hütte von oben, und ich sah einen japanischen Steingarten mit einem einzigen großen Felsblock in der Mitte – einer Insel in einem Meer aus Kieselsteinen, die mit dem Rechen sorgfältig zu Wellen geformt waren. Auf dem Felsen erhob sich ein Bonsai mit gewundenem Stamm, der sich in vollkommener Harmonie mit der gesamten Gartenanlage befand. Darüber lag ein weiterer terrassenförmig angelegter Garten mit Gemüse und Blumen.
Die Hütte war auf Pfählen über dem Boden errichtet. »Manchmal bekommen wir ziemlich viel Wasser ab«, erklärte Mama Chia, ohne
daß ich sie danach gefragt hätte, während wir die drei Holzstufen hinaufgingen und die Hütte betraten. Die Einrichtung war typisch für Mama Chia: eine lange, niedrige Futon-Liege, grüne Teppiche, die an das Laub im Wald erinnerten, ein paar Gemälde an den Wänden, einige Zafus –
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