Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Molokais. Doch die quälende Frage nach dem Dienst stieg trotzdem immer wieder in mir auf und bedrückte mich.
»Mama Chia«, brach ich unser Schweigen, »wenn du von Pater Damien oder Mutter Teresa sprichst, wird mir klar, wie weit ich von all dem entfernt bin. Der Gedanke, mit Leprakranken zu tun zu haben und den Armen zu dienen, sagt mir im Augenblick einfach nicht zu, obwohl ich weiß, daß das etwas Gutes wäre.«
»Die meisten Menschen haben ähnliche Gefühle wie du«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. »Gutes kann man aus vielen verschiedenen Gründen tun. Im ersten Stockwerk dient jeder Mensch nur sich selbst; im zweiten Stock knüpfen wir unseren Dienst an Bedingungen; im dritten Stock dienen wir aus Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein. Ich sage dir noch einmal: Wahrer Dienst beginnt erst auf der vierten Ebene, wenn dein Bewußtsein im Herzen weilt.«
Wir wanderten weiter in den Nachmittag hinein. Einmal blieben wir stehen, um Mangos zu pflücken. Doch sie waren für meinen Hunger nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. So freute ich mich über die Nüsse, die Mama Chia noch in ihrem Rucksack hatte. Sie selbst knabberte nur daran und war zufrieden mit diesem kärglichen Mahl.
»Wenn du weiter so wenig ißt«, sagte ich, »wirst du bald schlank sein wie ein Model.«
»Was für ein Model?« fragte sie.
»Zum Beispiel das Model einer Heiligen.«
»Ich bin keine Heilige«, widersprach sie. »Du solltest mich mal auf Partys erleben.«
»Habe ich doch schon – weißt du nicht mehr? Auf Oahu.« Meine Gedanken kehrten wieder dorthin zurück – war es möglich, daß das erst ein paar Wochen her war? Mir kam es vor, als seien seit meiner Ankunft auf Hawaii schon Jahre vergangen. Ich fühlte mich viel älter und vielleicht auch ein bißchen weiser.
Während wir die letzte Etappe unseres Abstiegs in Angriff nahmen, fragte ich Mama Chia: »Wie soll ich diesen Sprung, von dem
du mir erzählt hast, jemals schaffen? Schließlich habe ich einen Beruf, eine Familie, die ich unterstützen muß, und auch noch andere Verpflichtungen. Ich kann nicht einfach durch die Welt gehen und Sachen verschenken oder meine ganze Zeit als freiwilliger Helfer irgendwo verbringen.«
»Wer hat das denn von dir verlangt? Wie kommst du auf diese Idee?« wollte Mama Chia wissen. Dann lächelte sie. »Vielleicht hast du sie aus derselben Quelle wie ich«, sagte sie, verlangsamte ihren Schritt und erzählte: »Als ich auf die Universität ging, hatte ich die allerhöchsten Ideale. Ich strebte nach dem Heiligen Gral; mit etwas Geringerem hätte ich mich nicht zufriedengegeben. Es verging kein Tag, an dem ich nicht Gewissensbisse hatte, weil ich eine so gute Universität besuchte, weil ich Bücher lesen und studieren und interessante Filme sehen durfte, während in anderen Kontinenten Kinder verhungerten. Ich schwor mir, daß mein Studium nur dazu dienen sollte, später den Menschen zu helfen, die nicht so viel Glück hatten wie ich.
Dann bekam ich ein Stipendium für ein Semester in Indien, und das wurde ein herber Schock für meine hochfliegenden Ideale. Ich hatte ein bißchen Geld zusammengespart, das ich den Armen geben wollte. Kaum war ich aus dem Zug gestiegen, kam auch schon ein Kind auf mich zu. Es war ein hübsches kleines Mädchen – sauber und ordentlich, mit glänzenden weißen Zähnen, trotz der Armut. Sie bat mich um eine kleine Gabe, und ich war glücklich, ihr ein Geldstück geben zu können. Wie ihre Augen aufleuchteten! Mir wurde richtig warm ums Herz.
Dann rannten schon die drei nächsten Kinder auf mich zu. Ich lächelte huldvoll und gab wieder jedem ein Geldstück. Im Nu war ich von fünfzehn Kindern umringt. Und es sollte noch schlimmer werden! Überall standen bettelnde Kinder herum. Bald hatte ich kein Kleingeld mehr. Also verschenkte ich meine Reisetasche und meinen Regenschirm; ich verschenkte fast alles außer den Kleidern, die ich am Leib trug, und meinen Flugtickets. Wenn ich so weitergemacht hätte, hätte ich bald selbst betteln gehen müssen! Irgendwie mußte das aufhören. Ich mußte lernen, nein zu sagen, ohne daß mein
Herz sich verhärtete. Es tat mir weh, aber es mußte sein. Schließlich hatte ich kein Armutsgelübde abgelegt – ebensowenig wie du.
Ja, es stimmt: Diese Welt braucht mehr Mitgefühl. Aber jeder Mensch hat eine andere Berufung. Manche arbeiten an der Börse, andere im Gefängnis. Manche leben im Luxus, andere haben kein Dach über dem Kopf. Manche denken darüber
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