Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
wieder. Ich wandte mich ihr zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen.
»Du warst so gut zu mir«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun …« Ich mußte langsam und tief atmen, damit der Schmerz mich nicht übermannte. »Du bist so ein lieber Mensch, Mama Chia – es ist einfach ungerecht, daß du so krank bist! Und ich habe das Gefühl, das alles gar nicht zu verdienen – die Zeit, die Energie, das Leben, das du mir geschenkt hast. Wie kann ich dir je danken – wie kann ich dir das alles vergelten?«
Statt einer Antwort umarmte Mama Chia mich lange Zeit schweigend. Ich drückte diese alte Frau so liebevoll an mich, wie ich Socrates nie hatte umarmen können, und weinte.
Dann trat sie einen Schritt zurück und schenkte mir ein strahlendes Lächeln: »Ich habe Freude an dem, was ich tue – eines Tages wirst du das verstehen. Und ich tue es nicht für dich, nicht einmal für Socrates – also ist Dank weder nötig noch angebracht. Ich tue es für eine größere Sache, eine wichtigere Mission. Dadurch, daß ich dich unterstütze, helfe ich vielen anderen Menschen, für die du eines Tages dasein wirst. Komm«, forderte sie mich auf, »laß uns einen Strandspaziergang machen.«
Ich warf noch einen letzten Blick auf das Dorf, in dem jetzt wieder der normale Alltag herrschte. Die Herzlichkeit und Offenheit dieser Menschen begeisterte mich. Ich sah sie jetzt mit ganz anderen Augen. Viele andere Erinnerungen würden verblassen, aber diese würde mir stets lebhaft im Gedächtnis bleiben – wirklicher und nachhaltiger als jede Vision.
18
DIE GEFANGENEN SEELEN
Wir tragen den Samen Gottes in uns:
Birnenkerne werden zu Birnbäumen,
Haselnüsse zu Haselnußsträuchern
und Gottessamen zu Gott.
MEISTER ECKHART
Wir sagten beide nicht viel, als wir auf dem weißen Sandstrand entlangwanderten. Wir lauschten nur dem Rauschen der Wellen und den schrillen Schreien des Albatros, der über der Küste kreiste. Mama Chia ließ ihre Augen am Horizont entlangwandern und beobachtete die langen Schatten, die die Spätnachmittagssonne warf. Sie nahm Dinge wahr, die für die meisten Sterblichen unsichtbar waren. Ich untersuchte das Treibholz, das die Wellen während des Sturms in der vorigen Nacht weit den Strand hinaufgespült hatten. Und ich suchte den Sand nach Muscheln ab. Sachi würden die Muscheln zwar nicht beeindrucken, aber Holly würden sie gefallen. Ich dachte an meine kleine Tochter, sah in Gedanken Hollys liebes Gesicht vor mir und vermißte sie. Ich dachte auch an Linda und fragte mich, ob es uns vielleicht von vornherein bestimmt gewesen war, daß wir eines Tages getrennte Wege gehen würden.
Ich warf einen Blick zurück und sah lange Schatten über die Schlangenlinie unserer Fußspuren im nassen Sand fallen. Dann heftete ich meine Blicke wieder auf den Boden und suchte nach weiteren Andenken des Meeres, und Mama Chia suchte weiterhin mit den Augen den Horizont und den Strand ab, der vor uns lag.
Wir umrundeten einen Felsvorsprung und mußten dabei bis zu den Knien in die Brandung hineinwaten. Mama Chia holte tief
Luft. Ich dachte, sie wollte mir etwas sagen; aber das tiefe Einatmen war nur ihre Reaktion auf einen der traurigsten und merkwürdigsten Anblicke, die ich je gesehen habe: Der Strand war von Tausenden von Seesternen übersät, die der Sturm in der letzten Nacht an Land gespült hatte. Schöne fünfarmige Seesterne, rosa und hellbraun, lagen im heißen Sand, vertrockneten und starben.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, schockiert vom Anblick dieses großen Meeresfriedhofs. Ich hatte zwar schon von gestrandeten Walen und Delphinen gelesen, aber noch nie welche gesehen. Jetzt, beim Anblick von Tausenden sterbender Kreaturen, war ich hilflos und wie betäubt.
Doch Mama Chia verlor keine Sekunde. Sie humpelte sofort zum nächsten Seestern hinüber, bückte sich, hob ihn auf und trug ihn ins Wasser hinein. Dann kam sie zurück, hob einen anderen kleinen Stern auf und gab ihn dem Ozean zurück.
Überwältigt von der Unmenge dieser Seesterne, sagte ich: »Mama Chia, es sind so viele – du kannst doch nichts ändern!«
Sie war gerade dabei, den nächsten Seestern ins Wasser zu setzen, und sah nur einen Augenblick zu mir auf. »Doch – für diesen einen hier kann ich etwas ändern«, erwiderte sie.
Natürlich hatte sie recht. Ich bückte mich ebenfalls, nahm in jede Hand einen Seestern und folgte ihrem Beispiel. Den ganzen Nachmittag und
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