Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
menschliche Erfahrung. Ich half einfach. Für diese paar Tage gehörte ich zu ihnen.
Am fünften Tag überkam mich ein so intensives Mitleid, wie ich es noch nie erlebt hatte – noch nie in meinem ganzen Leben. Und ich begriff, warum Mama Chia mich hierhergeschickt hatte. Von diesem Tag an machte ich mir keine Gedanken mehr darüber, daß ich mich »anstecken« könnte. Ich wollte einfach helfen, wo ich nur konnte – ich hatte wirklich das Bedürfnis danach.
Mein Herz ging auf. Ich überlegte, was ich noch für diese Menschen tun konnte. Sport konnte ich nicht mit ihnen treiben. Die meisten waren zu alt dazu. Und soweit ich wußte, hatte ich keine anderen besonderen Fähigkeiten, mit denen ich ihnen hätte nützen können.
Als ich durch eine stille, friedliche Gegend in der Nähe des Zentrums der Leprakolonie streifte, kam mir der rettende Gedanke: Ich würde ihnen helfen, einen Teich anzulegen. Das war die Lösung! So konnte ich ihnen wenigstens etwas Schönes hinterlassen.
Ich hatte einmal einen Sommer lang bei einem Laudschaftsgärtner ausgeholfen und mir dabei einige Grundkenntnisse angeeignet. Ich stellte fest, daß ein paar Säcke mit Zement in einem Schuppen lagerten und auch alle Werkzeuge vorhanden waren, die wir brauchten. Ein Bild erstand vor meinem geistigen Auge: die Vision eines schönen, stillen Teiches – ein Ort, an dem man sitzen und meditieren oder sich einfach einmal ein paar Minuten lang ausruhen konnte. Zwar war das Meer nur ein paar hundert Meter entfernt; aber dieser Teich sollte trotzdem etwas ganz Besonderes werden.
Ich machte eine Skizze und gab sie Manoa. Er zeigte sie ein paar anderen. Sie hielten das mit dem Teich auch für eine gute Idee, und gemeinsam mit ein paar Männern begann ich eine Grube auszuheben.
Am nächsten Tag – gerade, als wir im Begriff waren, den Beton zu mischen – tauchte Mama Chia auf: »Die Woche ist um, Dan. Ich hoffe, du hast hier keinen Unsinn angestellt!«
»Nein! Das kann unmöglich schon eine ganze Woche gewesen sein!« rief ich fassungslos.
Sie lächelte. »Doch, es war eine Woche.«
»Weißt du – wir sind gerade mitten in einem Bauprojekt. Kannst du nicht in ein paar Tagen wiederkommen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wir haben auch noch anderes zu tun – deine Ausbildung …«
»Ja, ich weiß, aber ich möchte das hier wirklich gern fertigmachen.«
Mama Chia seufzte und zuckte die Achseln. »Aber dann habe ich vielleicht keine Zeit mehr, dir eine ganz spezielle Technik beizubringen, mit der man …«
»Nur noch ein paar Tage!«
»Also gut, wie du willst«, sagte sie, drehte sich um und steuerte auf einen der Bungalows zu. Ich warf einen Blick auf ihr Gesicht. Sie sah sehr zufrieden aus. Aber ich dachte nur ein paar Sekunden darüber nach, dann hievte ich den nächsten Sack Zement hoch.
Mama Chia kam gerade rechtzeitig wieder, um zuzusehen, wie wir die Betonauskleidung des Teiches fertigstellten. Und in dem Augenblick, als sie fertig war, wußte ich, daß es nun Zeit für mich war zu gehen. Ein paar Männer kamen auf mich zu, um mir zum Abschied die Hand zu drücken. In dieser Zeit, in der wir an einem gemeinsamen Ziel gearbeitet und gemeinsam geschwitzt hatten, war ein enges Band zwischen uns entstanden – ein Band, das die Menschheit sicherlich schon seit Jahrtausenden kennt. Es war ein schönes Gefühl.
Ich würde sie alle vermissen. Diesen Außenseitern der Gesellschaft fühlte ich mich enger verbunden als meinen Kollegen am College in Ohio. Vielleicht lag das daran, daß ich mich auch immer als Außenseiter gefühlt hatte. Oder es lag an unserer gemeinsamen Aufgabe oder an der Offenheit, Geradlinigkeit und Ehrlichkeit
der Leprakranken. Diese Menschen hatten nichts mehr zu verbergen. Sie gaben sich keine Mühe, einen guten Eindruck zu machen oder ihr Gesicht zu wahren. Sie hatten die Masken fallenlassen und mir dadurch die Möglichkeit gegeben, auch meine Maske abzulegen.
Als Mama Chia und ich uns zum Gehen wandten, kam Tia herüber und umarmte uns beide. Ich drückte sie liebevoll an mich. Ich spürte ihren Kummer und den Mut, mit dem sie das Wissen ertrug, daß nun bald der Tag kommen würde, an dem sie ihr Baby hergeben mußte.
Während Mama Chia mich zum Strand hinunterführte, stiegen auch noch andere Gefühle in mir auf. All die Dankbarkeit, der Schmerz und die Liebe gegenüber Mama Chia, die ich in den letzten Tagen beiseite geschoben hatte, überwältigten mich
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