Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Chia weiter: »Hier bist du nun – eine von vielen gleichgesinnten Seelen in sehr unterschiedlicher ›Verkleidung‹ – und mühst dich ab, dich im Ozean des Karmas über Wasser zu halten; aber es ist ein Rettungsboot in der Nähe. Du bist viel näher dran als viele andere Menschen. Ehe du anderen hineinhelfen kannst, mußt du erst einmal selbst einsteigen.
Und darum geht es bei deiner Vorbereitung. Deshalb bist du Socrates begegnet, und deshalb arbeite ich jetzt mit dir. Nicht, weil du etwas Besonderes bist oder spezielle Verdienste hast, sondern weil du in dir den unaufhaltsamen Drang spürst, anderen Menschen etwas zu geben.« Sie hielt inne. Dann sagte sie: »Eines Tages wirst du schreiben, lehren und noch ganz andere Dinge tun, um mit deiner spirituellen Familie in Kontakt zu treten, um sie an ihre Mission zu erinnern, ein Signal zu geben.«
Das Gewicht dieser Verantwortung traf mich wie ein Schlag. »Andere Menschen das alles lehren? Ich kann mich nicht einmal mehr an die Hälfte von alldem erinnern, was du mir erzählt hast. Und ich habe kein Talent zum Schreiben«, protestierte ich. »Ich war nicht so gut in Englisch …«
Mama Chia lächelte nur. »Ich sehe, was ich sehe.«
In ein paar Stunden würde es hell werden. Das Feuer war schon bis zur Glut heruntergebrannt. Nach langem Schweigen sprach ich weiter: »Aber du hast doch gesagt, es gibt viele Seelen, die so sind wie ich …«
»Ja, aber du vereinigst ganz besondere Talente und Eigenschaften in dir, die dich zu einem guten Übermittler von Botschaften machen. So hast du zu Socrates gefunden, und er hat dich zu mir geschickt.«
Mit diesen Worten legte Mama Chia sich hin, rollte sich zusammen und schlief ein. Ich blieb sitzen und starrte aufs Meer hinaus, bis der erste Sonnenschimmer den Himmel an der Westspitze der Insel erhellte. Erst dann übermannte mich der Schlaf.
Dann kam der Morgen. Es war ein seltsames Gefühl, am Strand aufzuwachen – die warme tropische Luft war meine einzige Decke. Hier
war die Luft schon im Morgengrauen angenehm mild – es war wie ein Sommermorgen im Mittelwesten.
Das Schlafen an der frischen Luft hatte meinen Appetit geweckt. Mein Frühstück – ein Geschenk aus Mama Chias Rucksack, der nie leer zu werden schien – war einfach und doch unvergeßlich: eine Handvoll Feigen, ein paar Macademia-Nüsse, eine Apfelsine und eine Banane. Eine Nacht voller Erkenntnisse lag hinter mir; ich fragte mich, was der neue Tag wohl bringen würde.
Doch er blieb ereignislos. Den größten Teil des Tages brauchten wir, um nach Hause zurückzuwandern. Am Abend tranken wir Tee und hörten Musik von Mama Chias altem Grammophon. Mama Chia ging zeitig ins Bett. Ich schlief in ihrem Wohnzimmer auf dem Fußboden.
19
FREUNDE
Nimm dir Zeit nachzudenken;
aber wenn die Zeit zum Handeln gekommen ist,
hör auf zu denken und handle!
ANDREW JACKSON
Am nächsten Tag geschah es aus heiterem Himmel, wie es mit Überraschungen eben so ist. Die Samen, die in der Vergangenheit ausgesät worden waren, gingen jetzt auf. »Ich dachte mir, vielleicht hast du Lust, Sachis Familie kennenzulernen«, sagte Mama Chia. Wir wanderten auf einem Weg, den ich noch nicht kannte, in den Wald hinein. Warum lächelte sie nur die ganze Zeit so spitzbübisch in sich hinein?
Nachdem wir einen knappen Kilometer gegangen waren, kamen wir zu einer Lichtung, auf der ein hübsches Haus stand, größer als das von Mama Chia, aber in einem ähnlichen Stil erbaut, mit einem Garten an der Seite.
Ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt, kam heraus, sprang die zwei Treppenstufen hinunter und lief direkt auf mich zu. »Hi, Dan!« rief er und fiel mir lachend um den Hals, als kenne er mich schon seit seiner Geburt.
»Hi …«
»Ich heiße Socrates«, sagte er stolz.
»Wirklich?« fragte ich erstaunt. »Was für ein bedeutender Name!« Ich blickte auf und sah eine kleine, schlanke, sehr hübsche Frau in einem dunkelblauen geblümten Sarong, die ihrem Sohn folgte. Sie fiel mir leider nicht um den Hals.
Aber sie lächelte mich liebenswürdig an und streckte mir die Hand hin. »Hallo, Dan. Ich bin Sarah.«
»Hallo, Sarah. Nett, dich kennenzulernen.« Ich warf Mama Chia einen fragenden Blick zu. »Kennen mich hier eigentlich alle Leute?« fragte ich.
Da begannen Mama Chia, Sarah, Sachi und der kleine Socrates vergnügt zu lachen. Ich begriff nicht, was daran so lustig sein sollte.
»Sachi und Socrates’ Vater haben eine Menge von dir erzählt«,
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