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Die Rückkehr des Poeten

Die Rückkehr des Poeten

Titel: Die Rückkehr des Poeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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fast greifbar, sogar aus dieser Entfernung. Bei Unwettern wie diesem floss das Wasser aus der ganzen Stadt über seine glatten Betonflächen ab. Die Wassermassen schlängelten sich durch das Valley und um die Berge herum in Richtung Downtown. Und von da nach Westen zum Meer.
    Die meiste Zeit des Jahres war der so genannte Fluss nur ein Rinnsal. Eigentlich ein Witz. Doch ein Wolkenbruch weckte die Schlange und verlieh ihr Kraft. Sie wurde der Abfluss der Stadt, Millionen und abermillionen Liter, die gegen ihre dicken Steinwände klatschten, Tonnen von Wasser, die wütend auszubrechen versuchten und sich mit erschreckender Kraft und Vehemenz dahinwälzten. Ich musste an den kleinen Jungen denken, der in meiner Jugend von den Wassermassen mitgerissen worden war. Ich hatte ihn nicht gekannt, aber ich hatte von ihm gewusst. Selbst vier Jahrzehnte später konnte ich mich noch an seinen Namen erinnern. Billy Kinsey spielte am Rand des Flusses. Er fiel hinein und war weg. Sie fanden seine Leiche zwölf Meilen weiter, wo sie sich an einem Brückenpfeiler verfangen hatte.
    Meine Mutter hatte mir von klein auf immer wieder eingeschärft, wenn es regnet …
    »Halte dich von den Narrows fern.«
    »Was?«, flüsterte Rachel.
    »Ich dachte nur gerade an den Fluss. Wie er zwischen diesen Wänden eingezwängt ist. In meiner Kindheit nannten wir ihn ›die Narrows‹, die Enge. Wenn es so stark regnet wie heute, ist das Wasser richtig reißend. Absolut tödlich. Wenn es regnet, hält man sich besser von den Narrows fern.«
    »Aber wir gehen zu dem Haus.«
    »Das ist dasselbe, Rachel. Sei vorsichtig. Halte dich von den Narrows fern.«
    Sie sah mich an. Sie schien zu verstehen, was ich meinte.
    »Okay, Bosch.«
    »In Ordnung, wenn du die Vorderseite nimmst und ich die Rückseite?«
    »Einverstanden.«
    »Mach dich auf alles gefasst.«
    »Du auch.«
    Das fragliche Haus befand sich drei Grundstücke weiter. Wir gingen rasch an der Umfassungsmauer des ersten Grundstücks entlang und dann über die Einfahrt des nächsten. Wir kamen an zwei Häusern vorbei, bis wir das Haus erreichten, vor dem Thomas’ Wagen stand. Rachel nickte mir ein letztes Mal zu, dann trennten wir uns. Wir zogen gleichzeitig unsere Waffen. Rachel bewegte sich auf den Eingang zu, während ich auf der Einfahrt nach hinten ging. Das Dämmerlicht und die Geräusche des Regens und des Kanals boten mir visuelle und akustische Deckung. Außerdem war die Einfahrt von gedrungenen Bougainvilleen gesäumt, die schon eine Weile nicht mehr gestutzt worden waren. Hinter den Fenstern des Hauses brannte kein Licht. Hinter jedem konnte jemand stehen und mich beobachten, ohne dass ich es mitbekäme.
    Der Garten hinter dem Haus stand unter Wasser. In der Mitte der riesigen Pfütze standen die zwei A-förmigen Stützen eines Schaukelgerüsts, an dem keine Schaukeln mehr hingen. Dahinter war ein knapp zwei Meter hoher Zaun, der das Grundstück vom Kanal trennte. Ich konnte sehen, dass das Wasser fast bis an den oberen Rand der Betonwände reichte und in einem wilden Sturzbach vorbeirauschte. Bis Tagesende würde es über die Ufer treten. Weiter stromaufwärts, wo die Kanäle nicht so tief waren, reichte es wahrscheinlich schon bis ganz oben.
    Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus. Die Veranda, die sich über die gesamte Länge der Rückwand erstreckte, hatte keine Dachrinnen, und der Regen kam in Schwaden herunter, so dicht, dass alles dahinter verdeckt wurde. Backus hätte in einem Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen können, und ich hätte ihn nicht gesehen. Die Bougainvilleen-Reihe setzte sich an dem Verandageländer fort. Ich duckte mich unter die Blicklinie und bewegte mich rasch auf die Treppe zu. Ich nahm die drei Stufen mit einem Schritt und war raus aus dem Regen. Meine Augen und Ohren brauchten einen Moment, um sich den veränderten Verhältnissen anzupassen, aber dann sah ich es sofort. Auf der rechten Seite der Veranda stand eine weiße Rattancouch. Eine Decke verhüllte die unverkennbaren Umrisse einer menschlichen Gestalt, die leicht zusammengesunken gegen die linke Armstütze gelehnt saß. Ich ging in die Hocke und bewegte mich darauf zu und streckte die Hand nach dem Zipfel der Decke auf dem Boden aus. Ich zog sie langsam von der Gestalt.
    Es war ein alter Mann. Er sah aus, als wäre er schon mindestens einen Tag lang tot. Der Geruch begann sich gerade erst bemerkbar zu machen. Seine Augen waren offen und vorstehend, seine Haut hatte die Farbe des weißen

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