Die Rückkehr des Poeten
herumärgern wollte, nahm ich mir ein Wassertaxi zur Following Sea hinaus. Nach einer raschen Durchsuchung der Kajüte – bei der ich nichts Auffälliges entdeckte – ging ich in die Bugkabine.
Ich bemerkte, dass Terry einen CD-Player in seinem Büro hatte. Seine kleine Musiksammlung bestand vorwiegend aus Blues und Siebziger-Jahre-Rock. Ich legte eine Lucinda-Williams-CD jüngeren Datums mit dem Titel World Without Tears ein, und sie gefiel mir so gut, dass ich sie in den nächsten sechs Stunden immer wieder spielte. Die Frau hatte lange Reisen in ihrer Stimme, und das gefiel mir. Bis die Stromversorgung auf dem Boot zu Ende zu gehen begann und ich die Musik ausmachte, hatte ich mir unbewusst den Text von mindestens drei Songs eingeprägt, die ich meiner Tochter vorsingen wollte, wenn ich sie das nächste Mal zu Bett brachte.
Als ich in McCalebs kleines Büro zurückkam, setzte ich mich als Erstes an seinen Computer und öffnete den Ordner PROFILE.
Es kam eine Liste von sechs verschiedenen Dateien, deren Dateinamen aus Datumsangaben bestanden, die alle innerhalb der vergangenen zwei Jahre lagen. Ich rief sie eine nach der anderen in chronologischer Reihenfolge auf und stellte fest, dass jede ein forensisches Verdächtigenprofil in einem Mordfall war. In der schnörkellosen klinischen Sprache eines Profis abgefasst, zog jedes Profil anhand bestimmter Tatortdetails Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Mörders. Aus diesen Details wurde ersichtlich, dass McCaleb nicht bloß Zeitungsmeldungen gelesen hatte. Ganz offenkundig hatte er uneingeschränkten Zugang zu den Tatorten gehabt – entweder in Person oder, was wahrscheinlicher war, in Form von Fotos und Videoaufnahmen und schriftlichen Ermittlungsprotokollen. Für mich stand völlig außer Frage, dass es sich dabei nicht um Fingerübungen handelte, die sich ein Profiler ausgedacht hatte, dem seine Arbeit fehlte und der nicht aus der Übung kommen wollte. Dabei handelte es sich um die Arbeiten eines geladenen Gastes. Die Fälle stammten ausnahmslos aus den Zuständigkeitsbereichen kleiner Police Departments im Westen der USA. Ich nahm an, McCaleb hatte durch Zeitungsmeldungen oder auf anderem Weg von diesen Fällen erfahren und dem Police Department, das sich mit dem jeweiligen Fall herumschlug, einfach seine Hilfe angeboten. Wurde dieses Angebot angenommen, bekam er wahrscheinlich die Tatortunterlagen zugeschickt, worauf er sich daranmachte, sie auszuwerten und ein Profil zu erstellen. Ich fragte mich, ob sich seine Bekanntheit als förderlich oder hinderlich erwies, wenn er seine Dienste anbot. Wie viele Male war er abgewiesen worden, um in diesen sechs Fällen hinzugezogen zu werden?
Wenn er hinzugezogen worden war, bearbeitete er vermutlich jeden Fall von dem Schreibtisch aus, an dem ich gerade saß, ohne das Boot zu verlassen. Und ohne zu ahnen, dass seine Frau genau wusste, was er tat.
Aber ich konnte sehen, dass jedes Profil einiges an Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben musste. Ich konnte immer besser verstehen, dass sich das in ihrer Ehe, wie Graciela gesagt hatte, zu einem ernsten Problem entwickelt hatte. Terry verstand es nicht, einen Schlussstrich zu ziehen. Er konnte eine Sache nicht auf sich beruhen lassen. Diese Profilertätigkeit zeugte nicht nur von seinem Engagement als Ermittler, sondern auch von seiner Schwachstelle als Ehemann und Vater.
Die sechs Profile kamen von Fällen aus Scottsdale in Arizona, Henderson in Nevada und aus La Jolla, Laguna Beach, Salinas und San Mateo in Kalifornien. Zwei davon waren Kindsmorde, die restlichen vier Sexualmorde an drei weiblichen und einem männlichen Opfer. McCaleb stellte keine Verbindungen zwischen ihnen her. Es war klar, dass es sich dabei um separate Fälle handelte, die in den letzten zwei Jahren seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. In keiner der Akten gab es irgendwelche Hinweise, ob Terrys Mitwirkung hilfreich gewesen oder ob einer der Fälle gelöst worden war. Ich notierte mir von jedem die wichtigsten Details, um später bei den betreffenden Police Departments anzurufen und mich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Davon erhoffte ich mir zwar nicht viel, aber es war auch nicht grundsätzlich auszuschließen, dass eins dieser Profile der Auslöser für McCalebs Tod war. Es war nichts Eiliges, aber etwas, was ich nachprüfen müsste.
Nachdem ich vorerst mit dem Computer fertig war, nahm ich mir die Aktenbehälter in der obersten Koje vor. Ich holte
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