Die Rückkehr des Sherlock Holmes
dies: Mr. Woodley war durchaus abstoßend, während Mr. Carruthers, ein wesentlich älterer Mann, schon liebenswürdiger wirkte. Er war ein düsterer, blasser, glattrasierter und schweigsamer Mensch; doch er hatte höfliche Manieren und ein freundliches Lächeln. Er erkundigte sich nach unseren Umständen, und als er erfuhr, daß wir sehr arm hinterblieben waren, schlug er mir vor, ich solle seiner einzigen, zehnjährigen Tochter Musikunterricht geben. Ich sagte, ich würde meine Mutter nur ungern verlassen, worauf er meinte, ich könne sie doch jedes Wochenende besuchen; er bot mir hundert Pfund jährlich an, eine gewiß glänzende Bezahlung. Schließlich willigte ich ein und zog nach Chiltern Grange um, etwa sechs Meilen von Farnham entfernt. Mr. Carruthers war Witwer, aber er hatte eine Haushälterin angestellt, eine sehr respektable ältliche Person namens Mrs. Dixon, die sich um sein Anwesen kümmerte. Das Kind war reizend, und es ließ sich alles gut an. Mr. Carruthers war überaus freundlich und sehr musikalisch, und wir verbrachten die angenehmsten Abende miteinander. Jedes Wochenende fuhr ich meine Mutter in der Stadt besuchen.
Mein Glück bekam zum erstenmal einen Sprung, als der rotbärtige Mr. Woodley auftauchte. Er war eine Woche lang zu Besuch, und oh – sie kam mir wie drei Monate vor! Ein schrecklicher Mensch, für alle anderen ein Tyrann, für mich aber etwas noch unendlich Schlimmeres. Er umgarnte mich aufs widerlichste, prahlte mit seinem Reichtum, behauptete, ich bekäme die schönsten Diamanten ganz Londons, wenn ich ihn heiraten würde, und als er merkte, daß ich nichts von ihm wissen wollte, zog er mich schließlich eines Tages nach dem Abendessen in seine Arme – er war entsetzlich stark – und schwor, er würde mich erst loslassen, wenn ich ihm einen Kuß gegeben hätte. Mr. Carruthers kam dazu und riß ihn von mir weg, worauf er seinen Gastgeber ansprang und ihm das Gesicht blutig schlug. Damit war sein Besuch zu Ende, wie Sie sich vorstellen können. Tags darauf entschuldigte sich Mr. Carruthers bei mir und versicherte, einer solchen Beleidigung würde ich nie wieder ausgesetzt sein. Seitdem habe ich Mr. Woodley nicht mehr gesehen.
Und nun, Mr. Holmes, komme ich endlich zu der Besonderheit, deretwegen ich Sie heute um Rat bitten möchte. Sie müssen wissen, daß ich jeden Samstagvormittag mit meinem Fahrrad zum Bahnhof von Farnham fahre, um den Zug um 12 Uhr 22 nach London zu nehmen. Die Straße von Chiltern Grange ist ziemlich einsam, und an einer Stelle ganz besonders, wo sie über eine Meile zwischen Charlington Heath und den Wäldern, die Charlington Hall umgeben, hinläuft. Eine noch einsamere Strecke als diese dürfte man so leicht nirgends finden, und man trifft dort nur ganz selten einmal einen Wagen oder einen Bauern, bis man bei Crooksbury Hill auf die Hauptstraße kommt. Als ich nun vor zwei Wochen durch diese Gegend fuhr, sah ich einmal zufällig über meine Schulter und erblickte etwa zweihundert Yards hinter mir einen Mann, ebenfalls auf einem Fahrrad. Er schien von mittlerem Alter und trug einen kurzgeschnittenen dunklen Bart. Ehe ich in Farnham ankam, sah ich mich noch einmal um, aber der Mann war verschwunden, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Sie können sich aber meine Überraschung vorstellen, Mr. Holmes, als ich am Montag auf der Rückfahrt denselben Mann auf derselben Strecke wieder sah. Mein Erstaunen steigerte sich, als sich dieser Vorfall am folgenden Samstag und Montag exakt wiederholte. Er blieb immer in einiger Entfernung und belästigte mich in keiner Weise, doch war das Ganze auch so merkwürdig genug. Ich sprach davon zu Mr. Carruthers, der daran Anteil zu nehmen schien und mir sagte, er hätte einen Pferdewagen für mich bestellt, damit ich in Zukunft nicht mehr ohne Begleitung diese einsamen Straßen zu befahren brauchte.
Der Pferdewagen hätte diese Woche kommen sollen, wurde aber aus irgendeinem Grund nicht ausgeliefert, und ich mußte wieder mit dem Rad zum Bahnhof fahren. Das war heute morgen. Sie können sich denken, daß ich bei Charlington Heath Ausschau hielt, und natürlich sah ich wieder diesen Mann, genau wie in den beiden Wochen zuvor. Er hielt immer so weit Abstand, daß ich sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, aber es war mit Sicherheit niemand, den ich kannte. Er trug einen dunklen Anzug und eine Tuchmütze. Das einzige, was ich von seinem Gesicht deutlich sehen konnte, war sein dunkler Bart. Heute war ich nicht
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