Die Rückkehr des Sherlock Holmes
Einverständnis geendet hatte, worauf die Herzogin sich in Südfrankreich niederließ. Dies war erst vor ganz kurzem geschehen, und man weiß, daß der Junge seiner Mutter sehr zugetan war. Nach ihrem Weggang von Holdernesse Hall war er sehr bekümmert, und aus diesem Grund hatte der Herzog gewünscht, ihn auf meine Anstalt zu schicken. Nach vierzehn Tagen fühlte sich der Junge bei uns wie zu Hause und war augenscheinlich vollkommen glücklich.
Zum letztenmal wurde er in der Nacht zum 13. Mai gesehen – also letzten Montagabend. Sein Zimmer lag im zweiten Stock und war durch ein weiteres großes Zimmer zu erreichen, in welchem zwei Jungen schliefen. Diese Jungen haben nichts gesehen oder gehört; demnach ist sicher, daß der junge Saltire nicht durch dieses Zimmer hinausgekommen ist. Sein Fenster stand auf, und darunter wächst ein kräftiger Efeu bis zum Boden. Wir konnten unten keine Fußspuren finden, aber es ist klar, daß dies der einzig mögliche Ausgang ist.
Seine Abwesenheit wurde am Dienstagmorgen um sieben Uhr festgestellt. Sein Bett war benutzt worden. Er hatte sich vor seinem Weggang vollständig angekleidet, und zwar seinen gewöhnlichen Schulanzug: schwarze Eton-Jacke und dunkelgraue Hosen. Nichts deutete darauf hin, daß irgend jemand den Raum betreten hatte, und es ist völlig sicher, daß Schreie oder Kampfgeräusche nicht unbemerkt geblieben wären, da Caunter, der ältere Junge im Nebenzimmer, einen sehr leichten Schlaf hat.
Nachdem Lord Saltires Verschwinden entdeckt worden war, ließ ich sofort die gesamte Schule antreten – Schüler, Lehrer und Bedienstete. Hierbei ermittelten wir dann, daß Lord Saltire seine Flucht nicht alleine angetreten hatte. Auch Heidegger, der Deutschlehrer, fehlte. Sein Zimmer lag im zweiten Stock, im anderen Flügel des Gebäudes, ging aber nach derselben Richtung wie das von Lord Saltire. Auch sein Bett war benutzt worden; aber er war offenbar nur teilweise bekleidet gegangen, da sein Hemd und seine Strümpfe auf dem Boden lagen. Er hatte sich unzweifelhaft an dem Efeu hinuntergelassen, denn wir konnten die Abdrücke seiner Füße sehen, wo er auf dem Rasen gelandet war. Sein Fahrrad stand immer in einem kleinen Schuppen an diesem Rasen, und auch dies war verschwunden.
Er war damals mit den besten Referenzen gekommen und hatte schon zwei Jahre für mich gearbeitet; aber er war ein schweigsamer, mißmutiger Mensch und weder bei den anderen Lehrern noch den Schülern sehr beliebt. Keine Spur ließ sich von den Flüchtlingen finden, und am heutigen Donnerstagmorgen wissen wir genauso wenig wie am Dienstag. Natürlich haben wir uns sofort in Holdernesse Hall erkundigt. Es liegt nur wenige Meilen weit weg, und wir hatten uns gedacht, er sei in einem plötzlichen Anfall von Heimweh zu seinem Vater zurückgelaufen; doch dieser hatte nichts von ihm gehört. Der Herzog ist tief erschüttert – und was mich betrifft, so haben Sie ja den Zustand nervlicher Erschöpfung selbst gesehen, in den mich die Anspannung und meine Verantwortlichkeit getrieben haben. Mr. Holmes, sollten Sie je Ihre ganze Kraft zur Geltung bringen wollen, so flehe ich Sie an, es jetzt zu tun, denn Sie werden in Ihrem ganzen Leben keinen Fall mehr haben, der Ihrer würdiger sein könnte.«
Sherlock Holmes hatte dem Bericht des unglücklichen Schulleiters mit äußerster Aufmerksamkeit zugehört. Seine herabgezogenen Augenbrauen und die tiefe Furche dazwischen zeigten an, daß er keiner Ermunterung bedurfte, um seine ganze Konzentration auf ein Problem zu richten, das, abgesehen von den enormen Interessen, die hierbei auf dem Spiele standen, seine Liebe zum Komplexen und Ungewöhnlichen so unmittelbar ansprach. Nun zog er sein Notizbuch hervor und machte sich schnell ein paar Anmerkungen.
»Es war sehr nachlässig von Ihnen, mich nicht eher aufzusuchen«, sagte er streng. »Sie lassen mich meine Ermittlungen mit einem überaus schwerwiegenden Handicap antreten. Zum Beispiel ist es undenkbar, daß dieser Efeu und der Rasen einem erfahrenen Beobachter keine Anhaltspunkte geliefert hätten.«
»Mich trifft keine Schuld, Mr. Holmes. Seine Gnaden wünschten durchaus, jeden öffentlichen Skandal zu vermeiden. Er fürchtete, das Unglück seiner Familie könne vor die Welt gezerrt werden. Vor dergleichen hegt er einen tiefen Abscheu.«
»Es hat aber doch eine offizielle Untersuchung gegeben?«
»Ja, Sir, und die war höchst enttäuschend. Man erhielt sofort einen deutlichen Hinweis: Angeblich seien ein
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