Die Rückkehr des Tanzlehrers
mit kräftiger Stimme willkommen hieß. Sein Zimmer hatte die Nummer 12 und lag ganz oben, kein Fahrstuhl, nur knarrende Treppen. Er ging lautlos über weiche Teppiche, von irgendwo war ein Fernseher zu hören. Er stellte seine Tasche ab und trat ans Fenster. Unter ihm brauste der Verkehr, und wenn er den Blick hob, sah er das Meer, die
Berge und den Himmel. Aus der Minibar nahm er zwei Fläsch-chen Whisky und leerte sie am Fenster stehend. Sein Gefühl von Freiheit war noch stärker als vorher. Ich bin auf dem Weg zurück, dachte er. Ich habe überlebt. Wenn ich alt bin, werde ich an diese Zeit denken als an etwas, was mein Leben verändert, aber nicht beendet hat.
Es wurde Abend. Er hatte sich entschlossen, erst am nächsten Tag Kontakt zu Margaret Simmons aufzunehmen. Ein leichter Nieselregen fiel über der Stadt. Er ging hinaus, hinunter zum Hafen, lief ziellos an den Kais entlang. Plötzlich spürte er, wie ungeduldig er war. Er wollte wieder anfangen zu arbeiten. Er hatte nichts verloren außer Zeit. Aber was war eigentlich Zeit? Unruhige Atemzüge, Morgen, die zu Abenden und neuen Tagen wurden? Die chaotischen Wochen in Härjedalen, als sie zunächst nach einem Mörder suchten, dann nach zweien, kamen ihm unwirklich vor, wenn er daran zurückdachte. Und dann die Zeit nach dem 19. November, an dem er um Punkt 08.15 ins Behandlungszimmer seiner Ärztin eingetreten war; und ein paar Tage später der Beginn der Strahlenbehandlung. Wie dachte er jetzt darüber? Wie würde er es beschreiben, wenn er einen Brief an sich selbst verfassen müßte? Damals hatte die Zeit stillgestanden. Er hatte gelebt, als sei sein Körper ein Gefängnis. Erst als er Mitte Januar aus der Sache heraus war, den Bestrahlungen und der Operation, war sein Gefühl für Zeit zurückgekehrt, für Zeit als etwas, was sich bewegte, vorüberging, ohne zurückzukommen. Er aß in einem Restaurant nicht weit vom Hotel.
Als die Speisekarte gebracht wurde, rief Elena an. »Wie ist es in Schottland?«
»Gut. Aber es ist gar nicht so einfach, links zu fahren.«
»Hier regnet es.«
»Hier auch.«
»Was tust du gerade?«
»Ich will gerade essen.«
»Was ist mit deinem Auftrag?«
»Heute tue ich nichts. Aber morgen.«
»Komm aber, wie du es versprochen hast.«
»Warum sollte ich das nicht tun?«
»Als du krank geworden bist, hast du dich von mir entfernt. Ich möchte nicht, daß das noch einmal passiert.«
»Ich komme wie versprochen.«
»Heute habe ich ein polnisches Abendessen mit Verwandten, die ich noch nie gesehen habe.«
»Ich wünschte, ich könnte dabeisein.«
Sie lachte schallend. »Du lügst aber schlecht. Grüß Schottland.«
Nach dem Abendessen setzte er seinen Spaziergang fort. Die Kais, der Hafen, die Hauptgeschäftsstraßen. Er fragte sich, wohin er eigentlich unterwegs war.
In der Nacht schlief er tief.
Am nächsten Morgen stand er früh auf. Der Nieselregen fiel immer noch über Inverness. Nach dem Frühstück rief er die Telefonnummer an, die Evelyn ihm gegeben hatte.
Ein Mann meldete sich. »Simmons.«
»Mein Name ist Stefan Lindman. Ich möchte Margaret Simmons sprechen.«
»Worum geht es denn?«
»Ich komme aus Schweden. Sie hat Anfang der siebziger Jahre Schweden besucht. Ich bin ihr nie begegnet. Aber ein Kollege von mir, auch Polizist, hat von ihr gesprochen.«
»Meine Mutter ist nicht zu Hause. Von wo rufen Sie an?«
»Inverness.«
»Sie besucht heute Culloden.«
»Wo liegt das?«
»Culloden ist ein Schlachtfeld nicht weit von Inverness. Dort fand die letzte Schlacht auf britischem Boden statt. 1745. Haben Sie in Schweden keinen Geschichtsunterricht?«
»Jedenfalls nicht besonders viel über Schottland.«
»Die Schlacht war in einer halben Stunde vorbei. Die Schotten verbluteten, die Engländer massakrierten alle, deren sie habhaft werden konnten. Meine Mutter besucht das Schlachtfeld drei- oder viermal im Jahr und geht dort spazieren. Zuerst macht sie eine Runde durchs Museum. Manchmal werden dort Filme gezeigt. Sie behauptet, sie liebe es, die Stimmen der Toten aus der Erde zu hören. Sie bereitet sich auf ihren eigenen Tod vor, sagt sie.«
»Und wann kommt sie zurück?«
»Heute abend. Aber dann geht sie gleich ins Bett. Wie lange bleibt ein schwedischer Polizist in Inverness?«
»Bis morgen nachmittag.«
»Rufen Sie morgen vormittag an. Wie war ihr Name, Steven?«
»Stefan.«
Stefan beschloß, nicht bis zum nächsten Tag zu warten. Er ging zur Rezeption hinunter und bat um eine
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