Die Rückkehr des Tanzlehrers
sich hingelegt. Er hatte es hier, in dem zerstörten Haus, lesen wollen, in dem sich Herbert Molin noch immer irgendwie in seiner Nähe befand. Neben das Tagebuch hatte er die drei Fotos gelegt. Bevor er das Tagebuch öffnete, hatte er das rote Band gelöst, das die Briefe zusammenhielt. Es waren neun. Molin hatte sie selbst an seine Eltern in Kalmar geschrieben. Die Briefe waren vom Oktober 1942 bis April 1945 datiert. Alle waren in Deutschland aufgegeben. Stefan beschloß, mit den Briefen zu warten. Zuerst wollte er das Tagebuch durchgehen.
Der erste Eintrag stammt vom 3. Juni 1942 in Oslo. Herbert Molin schreibt, daß er das Tagebuch in einem Buch- und Papierwarenladen in der Stortingsgate in Oslo gekauft habe, um darin von nun an »wichtige Ereignisse meines Lebens festzuhalten«. Er ist westlich von Idre im nördlichen Dalarna über die Grenze gegangen. Auf einem Weg, der durch Flötningen führt. Er ist ihm von einem Leutnant »W« in Stockholm empfohlen worden, »der dafür sorgt, daß diejenigen, die als Freiwillige in den Dienst der Deutschen treten wollen, in den Bergen den richtigen Weg finden«. Wie er von der Grenze nach Oslo gelangt ist, bleibt unklar.
Stefan hatte schon hier innegehalten und nachgedacht. 1942 war Herbert Molin neunzehn Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt hieß er noch August Mattson-Herzen. Das Tagebuch hatte er zu führen begonnen, als er sich bereits mitten in einem entscheidenden Lebensabschnitt befand. Er ist neunzehn Jahre alt und hat beschlossen, als Freiwilliger der deutschen Wehrmacht beizutreten. Er will für Hitler kämpfen. Er hat Kalmar verlassen und einen Leutnant »W« in Stockholm kennengelernt, der mit der Anwerbung der Freiwilligen zu tun hat. Aber zieht Molin gegen oder mit dem Wissen und Willen seiner Eltern in den Krieg? Was sind seine Motive? Will er gegen den Bolschewismus kämpfen? Oder ist er nur auf ein Abenteuer aus? Das wird nicht klar. Nur daß er jetzt neunzehn Jahre ist und sich in Oslo aufhält.
Stefan las weiter. Am 4. Juni hat Herbert Molin nur das Datum geschrieben und eine Zeile begonnen, die er dann wieder durchgestrichen hat. Danach kein Eintrag bis zum 28. Juni. Da hat er in Großbuchstaben und mit dicker Schrift notiert, daß er »angenommen worden« ist. Und daß er schon am 2. Juli nach Deutschland transportiert werden soll. Die Buchstaben strahlen Triumph aus. Er ist von der deutschen Wehrmacht angenommen worden! Dann schreibt er, daß er Eis gegessen habe und über die Karl-Johan-Gata gegangen sei. Er hat schöne Mädchen gesehen, die »mich verlegen machen, wenn ich einmal einen ihrer Blicke auffange«. Es ist der erste persönliche Kommentar. Er hat Eis gegessen und Mädchen angesehen, und er ist verlegen geworden.
Die nächste Eintragung war schwer zu lesen. Nach einer Weile erkannte Stefan, warum. Herbert Molin schreibt in einem Zug, der rüttelt und schüttelt. Er ist auf dem Weg nach Deutschland. Er schreibt, daß er gespannt ist, aber voller Zuversicht. Und daß er nicht völlig allein ist. In seiner Gesellschaft befindet sich ein weiterer Schwede, der als Freiwilliger der Waffen-SS beigetreten ist. Anders Nilsson aus Lycksele. »Nils-son redet nicht viel. Das paßt mir gut, weil ich selbst ziemlich schweigsam bin.« Außerdem sind noch ein paar Norweger dabei, aber deren Namen aufzuschreiben findet er nicht der Mühe wert.
Der Rest der Seite ist bis auf einen großen braunen Fleck leer. Stefan meinte Molin vor sich zu sehen, wie er Kaffee über das Tagebuch kleckerte und es dann in den Rucksack steckte, um es nicht völlig zu versauen.
Die nächste Eintragung stammt aus Österreich. Es ist bereits Oktober. »12. Oktober 1942. Klagenfurt. Ich schließe gerade meine Ausbildung bei der Waffen-SS ab. Ich werde einer von Hitlers Elitesoldaten und habe mir vorgenommen, erfolgreich zu sein. Habe einen Brief geschrieben, den Erngren mit nach Schweden nimmt, weil er krank geworden ist und seinen Abschied bekommen hat.«
Stefan zog das Bündel mit den Briefen zu sich heran. Der oberste war am 11. Oktober in Klagenfurt geschrieben. Stefan konnte sehen, daß er mit derselben Feder geschrieben war, die Molin im Tagebuch verwendet. Ein Füller, der dann und wann geschmiert und große Kleckse hinterlassen hat. Stefan stand auf, trat an das zerschossene Fenster und las. Ein Vogel flatterte zwischen den Ästen auf.
Liebe Mutter, lieber Vater!
Ich nehme an, daß Ihr Euch vielleicht Sorgen macht, weil ich nicht früher geschrieben habe. Aber Vater,
Weitere Kostenlose Bücher