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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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der ja selbst Soldat ist, weiß sicher, daß es nicht immer leicht ist, Zeit oder Ort zu finden, sich mit Briefpapier und Füller hinzusetzen. Ich will Euch nur grüßen, liebe Eltern, und Euch sagen, daß es mir gutgeht. Aus Norwegen bin ich über Deutschland nach Frankreich gekommen, wo der erste Teil der Ausbildung stattgefunden hat. Jetzt bin ich in Österreich, um zu lernen, richtig mit Waffen umzugehen. Wir sind hier viele Schweden. Außerdem Norweger, Dänen, Holländer und drei Männer aus Belgien. Die Disziplin ist hart, und nicht alle kommen damit zurecht. Aber ich habe mich bisher gut gehalten und bin von einem Hauptmann Stirnholz, der einen Teil der Ausbildung hier unter sich hat, gelobt worden. Die Deutsche Wehrmacht und besonders die Waffen-SS, der ich jetzt angehöre, müssen die besten Soldaten der Welt haben. Ich muß zugeben, daß wir jetzt alle ungeduldig daraufwarten, hinauszukommen und von Nutzen zu sein. Das Essen ist meistens gut, aber nicht immer. Doch ich klage nicht. Wann ich nach Schweden kommen kann, weiß ich nicht. Urlaub wird erst bewilligt, wenn man eine bestimmte Zeit aktiv gewesen ist. Ich sehne mich natürlich nach Euch, beiße aber die Zähne zusammen und tue meine Pflicht. Denn es ist eine große Sache, für das neue Europa und gegen den Bolschewismus zu kämpfen.
    Es grüßt Euch
    Euer Sohn August
    Das Papier war spröde und vergilbt. Stefan hielt es gegen das Licht. Das Wasserzeichen, der deutsche Adler, trat deutlich hervor. Er blieb am Fenster stehen. Herbert Molin verläßt Schweden, geht heimlich über die Grenze nach Norwegen und läßt sich von der Waffen-SS anwerben. Im Brief an die Eltern wird das Motiv klar. Herbert Molin ist kein Abenteurer. Er schließt sich der deutschen Wehrmacht, dem Nationalsozialismus an, um bei der Entstehung eines neuen Europas mitzuwirken, dessen Voraussetzung die Zerschlagung des Bolschewismus ist.
    Herbert Molin ist schon im Alter von neunzehn Jahren ein überzeugter Nazi.
    Stefan wandte sich wieder dem Tagebuch zu. Anfang Januar 1943 befindet sich Molin an der Ostfront, tief im Innern Rußlands. Der ursprüngliche Optimismus ist Zweifeln gewichen, geht dann in Verzweiflung über und endet schließlich in Angst. Stefan hielt bei ein paar Sätzen inne, die am Ende des Winters niedergeschrieben wurden:
    »14. März. Ort unbekannt. Rußland. Die Kälte immer noch sehr stark. Jede Nacht Angst, daß ein Körperteil erfriert. Strömberg gestern von Granatsplitter getötet. Hyttler ist desertiert. Wenn sie ihn kriegen, wird er erschossen oder gehängt. Wir haben uns eingegraben und warten auf die Gegenoffensive. Ich habe Angst. Das einzige, was mich aufrecht hält, ist der Gedanke daran, nach Berlin zu kommen und Tanzstunden zu nehmen. Frage mich, ob ich jemals hinkommen werde.«
    Er tanzt, dachte Stefan. Er liegt irgendwo eingegraben und überlebt dadurch, daß er davon träumt, auf einem Parkett dahinzugleiten. Stefan sah auf die drei Fotos. Herbert Molin lächelt. Keine Spur von Angst. Ein richtiges Salonlöwenlächeln. Die Angst liegt hinter den Bildern. Fotografien, die nie aufgenommen wurden. Oder er hat es vorgezogen, die Bilder, auf denen die Angst sichtbar wird, nicht zu behalten, um sich nicht daran erinnern zu müssen.
    Herbert Molins Leben kann in der Mitte durchtrennt werden, dachte Stefan weiter. Es gibt eine Wasserscheide. Eine entscheidende Wasserscheide. Vor der Angst und nach der Angst. Im Winter 1943, als er versucht, an der Ostfront zu überleben, kriecht sie in ihm hoch. Da ist er zwanzig Jahre alt. Möglicherweise habe ich diese Angst dort im Wald bei Boras entdeckt. Die gleiche Angst, vierzig Jahre später.
    Stefan las langsam weiter. Es begann zu dämmern. Durch die zerschossenen Fenster zog die Kälte in den Raum. Er nahm das Buch mit in die Küche, schloß die Tür, verhängte das kaputte Fenster mit einer Wolldecke, die er aus dem Schlafzimmer holte, und las weiter.
    Im April notiert Herbert Molin zum erstenmal, daß er nach Hause fahren will. Er hat Angst zu sterben. Die Soldaten befinden sich auf einem trostlosen und schwierigen Rückzug. Nicht nur aus einem unmöglichen Krieg, sondern auch weg von einer zusammengebrochenen Ideologie. Die Umstände sind widrig. Dann und wann spricht er von den Toten, die ihn umgeben. Den zerschossenen Körperteilen. Den augenlosen Gesichtern. Den durchschnittenen Kehlen. Er sucht die ganze Zeit nach einer Möglichkeit zu entkommen, aber er findet keine Lösung. Dagegen erkennt er, was

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