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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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keine Lösung ist. Später im Frühjahr wird er eines Tages herauskommandiert, um an einer Hinrichtung teilzunehmen. Sie sollen zwei Belgier und einen Norweger erschießen, die desertiert waren, aber wieder eingefangen wurden. Es ist eine der längsten Eintragungen.
    »19. Mai 1943. Rußland, oder möglicherweise polnisches Territorium. Wurde von Hauptmann Emmers einem Hinrichtungskommando zugeteilt. Zwei Belgier und der Norweger Lauritzen sollten als Deserteure erschossen werden. Sie wurden in einen Graben gestellt, wir standen auf der Straße. Schwer, nach unten zu schießen. Lauritzen weinte, versuchte, im Schlamm wegzukriechen. Hauptmann Emmers befahl uns, ihn an einen Telefonmast zu binden. Die Belgier schwiegen. Lauritzen schrie. Ich zielte direkt aufs Herz. Sie waren Deserteure. Es gilt das Kriegsrecht. Wer will sterben? Hinterher bekamen wir jeder ein Glas Cognac. In Kalmar ist jetzt Frühling. Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Meer sehen. Ob ich noch einmal nach Hause komme?«
    Stefan merkte, wie Herbert Molins Angst ihm aus den Texten entgegenkam. Er erschießt Deserteure, er ist der Meinung, daß es ein gerechtes Urteil ist, er bekommt Cognac, und er träumt von der Ostsee. Mitten in all dem kriecht die Angst umher. Dringt in sein Gehirn ein und läßt ihm keine Ruhe. Stefan versuchte, sich vorzustellen, was es bedeutete, in einem
    Schützengraben irgendwo an der Ostfront zu liegen. Die Hölle, dachte er. In weniger als einem Jahr ist die naive Begeisterung in Entsetzen übergegangen. Jetzt steht nichts mehr von dem neuen Europa da, jetzt geht es nur noch ums Überleben. Und darum, vielleicht eines Tages nach Kalmar zurückzukommen.
    Aber es dauert bis zum Frühjahr 1945. Aus Rußland ist Herbert Molin nach Deutschland zurückgekehrt. Er ist verwundet. Unter dem 19. Oktober 1944 findet Stefan die Erklärung für die Schußverletzungen, die der Gerichtsmediziner in Umea gefunden hatte. Was genau geschehen ist, wird nicht klar. Aber irgendwann im August 1944 wird Herbert Molin angeschossen. Er überlebt offenbar wie durch ein Wunder. Aber in den Eintragungen kommt keine Dankbarkeit zum Ausdruck. Stefan merkte, daß jetzt etwas anderes mit Herbert Molin vor sich ging. Es war nicht mehr nur die Angst, die den Inhalt des Tagebuchs dominierte. Jetzt schlich sich noch ein anderes Gefühl ein.
    Herbert Molin beginnt zu hassen. Er drückt Zorn aus über das, was geschieht, und er spricht davon, daß es notwendig ist, Schonungslosigkeit zu zeigen und ohne zu zögern Strafen zu verhängen. Obwohl er einsieht, daß der Krieg verloren ist, behält er den Glauben daran, daß der Vorsatz gut war. Das Ziel richtig. Hitler hat vielleicht nicht gehalten, was er versprochen hat. Doch er hat nicht in dem Maße versagt wie all die anderen, die nicht verstanden haben, daß der Krieg ein heiliger Kreuzzug gegen die Bolschewiken war. Es sind diese Menschen, die Herbert Molin im Laufe des Jahres 1944 zu hassen beginnt. In einem der Briefe, die er an seine Eltern in Kalmar schreibt, wird das sehr deutlich. Der Brief trägt das Datum Januar 1945 und hat wie gewöhnlich keinen Absender. Offenbar hat Molin gerade einen Brief von seinen Eltern bekommen, die sich Sorgen um ihn machen. Stefan fragte sich, warum Herbert Molin die Briefe, die er erhielt, nicht aufgehoben hat. Sondern nur die, die er selbst geschrieben hat. Vielleicht konnte die Erklärung die sein, daß seine eigenen Briefe eine Ergänzung zum Tagebuch waren. Dort sprach seine eigene Stimme. Seine eigene Hand führte die Feder.
    Liebe Mutter, lieber Vater!
    Entschuldigt, daß ich jetzt erst schreibe, aber wir hatten immerzu Truppenbewegungen und befinden uns jetzt nicht allzuweit von Berlin entfernt. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen. Der Krieg ist nun einmal Leiden und Aufopferung. Aber ich komme ziemlich gut durch und habe bisher Glück gehabt. Auch wenn ich schon viele von meinen früheren Kameraden habe sterben sehen, lasse ich den Mut nicht sinken. Aber ich wundere mich darüber, daß nicht viel mehr junge schwedische Männer, auch ältere, sich den deutschen Fahnen anschließen. Begreift man in der Heimat nicht, was passiert? Hat man nicht erkannt, daß der Russe sich alles unterwerfen wird, wenn wir uns nicht zur Wehr setzen? Nun will ich Euch nicht länger mit meinen Überlegungen und meinem Zorn ermüden, aber ich glaube sicher, daß Ihr, liebe Eltern, mich versteht. Ihr habt mir nicht widersprochen, als ich damals losgezogen bin, und Du, Vater,

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