Die Rückkehr des Zweiflers - Covenant 08
waren kampfgestählt und tapfer. Trotzdem waren sie viel zu wenige, um den Ansturm der Urbösen mehr als nur verlangsamen zu können.
Linden konnte noch denken: Verraten. Ja. Aber nicht von den Urbösen. In ihren Eingeweiden spürte sie plötzlich die spezielle Übelkeit, die Esmers Nähe verriet. Als sie wild um sich starrte, sah sie ihn auf dem jenseitigen Flussufer aus der Luft erscheinen. Esmers goldgeränderter Umhang hing schlaff an ihm herab, als könne der böige Wind ihm nichts anhaben. Seine Gesichtszüge konnte Linden kaum erkennen. Trotz der Entfernung leuchtete das gefährlich zornige Grün seiner Augen lebhaft: glühend und voller Schlacke wie von Verzweiflung verunreinigte kleine Smaragdsonnen. Mit lauter werdender Stimme brüllte er: »Ihr habt Chaos gesät, Haruchai, Bluthüter, Verräter! Tragt nun die Schuld am Verderben des Landes!«
Alles ereignete sich viel zu schnell: Linden konnte nicht darauf reagieren. Ohne Esmer zu beachten, stürzten die Urbösen und die Meister sich aufeinander. Vitriol schäumte und troff von den Klingen der Geschöpfe; der glühende Stab des Lehrenkundigen zerteilte das Halbdunkel in Klumpen. Keine der Waffen traf jedoch, weil die Haruchai sofort ausschwärmten, um den Keil von den Seiten aus anzugreifen. Lindens Gefährten – Stave und Mahrtiir voraus – stürmten heran, um sie zu beschützen. Und Esmer ...
Cails Sohn machte eine heftige Handbewegung und stieß dabei einen Schrei aus, der an einen lauten Hornruf erinnerte. Im nächsten Augenblick eruptierte der Erdboden unter den Füßen der Meister und der Urbösen. Durchweichte Lößklumpen und Felsbrocken, Wurzeln und Grashalme wurden in die Luft geschleudert und sofort vom starken Wind verstreut. Urböse und Haruchai gleichermaßen wirbelten wie dürres Laub durcheinander: Sie konnten nicht auf den Beinen bleiben, ihre Schlachtordnung beibehalten, ihre Macht weiterhin ausüben. Linden erwartete fast, dass sie von Esmers Gewalt angetrieben sich überschlagend über den Hügel wegrollen würden, doch sie fielen nur, wurden hochgeworfen, stürzten erneut und wurden mit einem Hagel aus Steinen und Erdreich bedeckt.
Nur wo Linden mit Covenant und Jeremiah stand, blieb der Erdboden stabil. Schock und Verständnislosigkeit lähmten ihre Freunde, aber Esmers Gewalt bedrohte sie nicht. Er hatte sie bewusst ausgespart. Linden konnte nichts anderes glauben. Unterstützung und Verrat. Anscheinend wollte er, dass Covenant und Jeremiah Erfolg hatten ...
Plötzlich schrie Covenant: » Jetzt, Jeremiah!«
Der Junge schüttelte seinen Verdruss ab. Er gehorchte sofort, wehrte Lindens Gefährten mit einer knappen Handbewegung ab. Dann hob er wie zuvor die Arme und hielt sie wieder so, dass sie gemeinsam mit Covenants Armen einen Bogen über Lindens Kopf andeuteten. Jeremiah nahm seine stumme Beschwörung wieder auf. Hinter Linden tat Covenant vielleicht das Gleiche.
Für Bruchteile einer Sekunde, für eine Zeitspanne, die zu kurz war, um mit der krampfhaften Arbeit ihres Herzens gemessen zu werden, spürte Linden, wie sich um sie herum Macht ansammelte: das Einsetzen einer namenlosen Theurgie. Von Jeremiah schien die gleiche Kraft zu kommen, die Linden in der Torhalle aufgehalten hatte – nur hundertmal stärker. Die von Covenant kommende Kraft besaß jedoch die wilde Gewalt fließenden Magmas. Hielt sie weiter an, würde sie den schweren Umhang von ihrem Rücken brennen und ihre Kleidung in Flammen aufgehen lassen, bis ihr Fleisch Blasen werfend von den Knochen schmolz.
Liand und Pahni schrien vielleicht ihren Namen; sogar Stave rief ihn vielleicht. Aber ihre Stimmen konnten die an Wucht gewinnende Katastrophe nicht durchdringen.
Dann hörte und sah und fühlte und schmeckte Linden eine gewaltige Erschütterung. Ein Blitzstrahl vervollständigte den Bogen über ihrem Kopf, schlug mit Welten vernichtender Gewalt aus Jeremiahs Fingerspitzen in Covenants über. Covenant und Jeremiah, alle ihre Freunde, Esmer, die von dem Geysir zerstreuten Urbösen und Haruchai, die sanften Hügel auf beiden Seiten des Flusses, der gesamte Felssporn von Schwelgenstein: alles verschwand. Der grelle Lichtbogen blieb noch einen Augenblick erhalten, brannte sich in ihre Netzhäute ein. Die Erdkraft des Ausflusses des Glimmermere war weiter zu spüren. Aber solche Dinge nahmen ab, und als sie zerrannen, war alles, was sie kannte – vielleicht alles, was sie jemals gekannt hatte – verschwunden.
6
Einmischung
Der Schock war zu groß.
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