Die Rückkehr des Zweiflers - Covenant 08
durch die Schlitze zwischen ihren Fingern verschwommene Details wahrnehmen konnte. Auch ihr Gesundheitssinn lieferte allmählich klare Informationen. Starkes Sonnenlicht beschien eine weite Fläche mit jungfräulichem, unzertrampeltem Schnee, der das Licht grausam sammelte und reflektierte. Ursprünglich war er kniehoch gewesen, vermutete sie. Aber er war vor einiger Zeit gefallen. Tage mit starkem Sonnenschein hatten ihn zusammensacken lassen und seine Oberfläche mit Harsch überzogen. Als ihr Sehvermögen sich besserte, konnte Linden die von ihr wegführenden Spuren sehen, die Covenants Stiefel im Schnee hinterlassen hatten. Aber sein Gegenüber oder Gegenspieler und er blieben undeutlich; so sehr ihre Augen sich auch anstrengten.
Die sie umgebende Stille war schneidender als die Kälte und bedrohlicher. Linden wusste nicht, wo sie war. Bestimmt wusste sie nur, dass sie sich noch im Land befand. Sogar durch den Schnee und ihre steif gefrorenen Stiefel spürte sie seinen typischen Lebenspuls, seine einzigartige Vitalität.
»Covenant.« Ihre Stimme war ein heiseres, von der Kälte raues Krächzen. »Wo ist Jeremiah?«
Statt auf Covenants Sticheleien einzugehen, sagte der Unbekannte: »Sie braucht deinen Trost.« Seine Stimme klang jetzt ungeduldig. »Bestimmt wird dein mitleidiges Herz dich drängen, dich um sie zu kümmern. Mit dieser Verzögerung muss ich mich abfinden.«
Der undeutliche Klumpen mit Covenants Umrissen schien auf Linden zu deuten. »Kümmere dich nicht um sie. Sie glaubt immer, ihre Wünsche seien wichtiger als alles, was andere tun. Ohne mich ist sie hier verloren. Wir sind zu weit von ihrer Zeit entfernt. Und sie kann nicht ohne mich zurück. Sie soll warten, bis ich mit dir fertig bin.«
Zu weit von ihrer Zeit entfernt. Und sie kann nicht zurück ...
Covenant hatte sie aus Schwelgenstein, von dem Hochplateau, von ihren Freunden mitgenommen – und aus der Zeit, in die sie gehörte.
Sie hätte entsetzt sein müssen. Doch der Schock ihrer Entführung klang ab, je mehr ihre Sinne wieder zu funktionieren begannen. Sie durfte sich nicht wieder schockieren oder lähmen lassen – nicht solange Jeremiah vermisst war. Im Augenblick zählte nichts anderes.
Begreifst du nicht, dass du mich noch immer ausradieren kannst?
Covenant hatte Grund, sie zu fürchten. So konnte sie Antworten erzwingen ...
Linden kniff die Augen zusammen, um Schmerzenstränen zu unterdrücken, öffnete sie wieder und ließ ihre Hand sinken. »Covenant!«, keuchte sie heiser, während sie einige Schritte auf ihn zuwankte. Ihre Stiefel brachen durch den Harsch und versanken halb im Schnee. »Fang!«
Aus Kummer und Verzweiflung warf sie ihm den Stab des Gesetzes zu.
Panik flackerte in seinen Augen auf, und er sprang mit einem Fluch zur Seite. Als er sich wegduckte, bohrte ein Ende des Stabs sich zwei, drei Schritte hinter ihm in den Harsch; dann fiel der Holzstab flach hin. Seine innere Hitze ließ die Eiskruste fast augenblicklich schmelzen. In einer kleinen Wolke aus aufgewirbelten Flocken versank der Stab im Schnee.
»Höllenfeuer!«, keuchte Covenant. »Höllenfeuer. Höllenfeuer .«
Linden stapfte einen Schritt weiter und machte halt, weil sie den Neuankömmling erstmals deutlich sah.
Er bewegte sich über das blendende Weiß des Schnees – und war dem Stab näher als sie. Als er sich jetzt bückte, um ihn zu ergreifen, konnte sie ihn nicht daran hindern. Sie musste hilflos zusehen, wie er ihn mit beiden Händen aufhob und auf ganzer Länge begutachtete. Mit hämmerndem Herzen umklammerte Linden den kalten Kreis von Covenants Ring: das einzige ihr verbliebene Machtinstrument.
Im nächsten Augenblick setzte der Unbekannte sich wieder in Bewegung. Linden fürchtete, er werde sich entfernen, aber das tat er nicht. Stattdessen kam er auf sie zu, als gleite er über die Harschdecke. Er war von Kopf bis Fuß in rotbraunen Stoff eingewickelt, der ihn einem Leichentuch nicht unähnlich umhüllte. Seine Hände und Füße waren umwickelt. Sogar sein Kopf – selbst die Augen – war so umwickelt, dass nur die stumpfe Verdickung seiner Nase und die Öffnung seines Mundes andeuteten, dass sein Gesicht überhaupt irgendwelche Züge besaß. Jetzt stand er vor Linden, hielt den Stab in seinen umwickelten Händen.
»Lady«, sagte er, »das war töricht. Aber es war auch gewitzt. Wie klug mein Eingreifen war, zeigt sich schon deutlich.« Er machte eine Pause, studierte offensichtlich den Stab. Dann verkündete er: »Leider ist
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