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Die Ruhe Des Staerkeren

Die Ruhe Des Staerkeren

Titel: Die Ruhe Des Staerkeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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umständlich an ihm vorbeidrücken mußte. Sein Kopf ruhte schräg auf seiner Schulter, eine dicke Strähnefettigen Haares hing ihm übers Gesicht, und seinem halbgeöffneten Mund entfuhr ein heftiges Schnarchen. Er mußte bereits in Mestre zugestiegen sein, sonst wäre er noch wach. Warum der Priester sich dieses Leid antat? Ein Büßer. Laurenti erinnerte sich an den Flug nach Rom, wo ein Fettkloß in der Sitzreihe hinter ihm das ganze Flugzeug vollgeschnarcht hatte. Widerlich. Nur als die Stewardeß Getränke und Gebäck verteilte, war er kurz zu sich gekommen, um sogleich, nachdem er das Glas geleert und zwei Packungen Kekse verdrückt hatte, wieder an seiner Großen Nachtmusik zu komponieren. Laurenti ging in den vordersten Wagen, wo drei Personen saßen, die keinen Lärm machten. Sie stiegen in San Donà del Piave aus und wünschten eine gute Nacht. Als der Zug wieder anfuhr, sah er noch den riesigen Koffer auf dem dunklen Bahnsteig verschwinden. Danach mußte ihn wieder der Schlaf übermannt haben, bis die Notbremsung ihn unsanft weckte.
    Mit einem Blick aus dem schmutzigen Wagenfenster erkannte er die Speicher des Porto Vecchio von Triest und unter sich die Straße. Der Zug mußte auf der Eisenbahnbrücke von Roiano, kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof, zum Halten gekommen sein. Was war passiert? Als er aufgeregte Stimmen vernahm, öffnete Laurenti die Waggontür und wurde sogleich von einem Mann, den er im Dunkeln nicht erkennen konnte, angepfiffen, er solle gefälligst auf seinem Platz bleiben. Hektisch schwirrten die Kegel von Stablampen über das Nebengleis. Laurenti kümmerte sich nicht um die Anweisung, vergewisserte sich, daß sich kein anderer Zug näherte und stieg aus.
    »Was ist passiert?« fragte er und hielt seinen Dienstausweis ins Licht.
    »Da unten«, sagte der Lokführer und wies mit der Hand zum Fuß der sechs Meter hohen Mauer, die neben der Brücke zur vierspurigen Viale Miramare abfiel. »Da liegt er.« Der Kegel der Stablampe folgte seinen Worten.
    Laurenti erkannte einen Körper. Zur Hälfte lag die Person in einer niedrigen Hecke. Auf dem Bauch, die Arme weit ausgebreitet. Ein dunkler Mantel verdeckte den Kopf, am Hosenbund sah man den Ansatz eines weißen Unterhemdes. Die Beine ragten auf den Gehweg neben der Straße, ein Schuh lag einen Meter weiter auf der Fahrbahn.
    »Verdammte Selbstmörder«, maulte der Lokführer, dem der Schrecken ins Gesicht gezeichnet war. »Und dann noch ein paar Meter vor Dienstschluß.«
    »Hat er sich vor den Zug geworfen?« Laurentis Stimme klang mißtrauisch. »Haben Sie es gesehen?«
    Der Zugführer schüttelte den Kopf. »Ich habe auf das Signal der Notbremse reagiert. Hätte er nur einen anderen Zug genommen!«
    »Die Notbremse? Und weshalb liegt er dann da unten?« murmelte Laurenti. »Wie schnell fahren Sie hier?«
    »Noch etwa vierzig bei bereits eingeleiteter Bremsung und stark abnehmender Geschwindigkeit.«
    »Bremsweg?« fragte Laurenti brüsk.
    »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte der Lokführer zögerlich, nachdem er sich verlegen am Kopf gekratzt hatte.
    »Wo wäre der Zug zum Stehen gekommen, wenn der Mann sich hier davor geworfen und Sie sofort reagiert hätten?«
    Der Zugführer zeigte in die Dunkelheit und biß sich auf die Lippen.
    »Stellen Sie fest, in welchem Waggon die Notbremse gezogen wurde.«
    »Im zweiten, gleich hier.« Der Schaffner hatte die Worte des Commissario gehört und stieg aus.
    »Leuchten Sie mir bitte den Weg aus. Wie komme ich da runter?« bat Laurenti und stapfte über den Schotter zum Rand der Bahnstrecke. Die Sache behagte ihm nicht. Klar, daß der Lokführer einen mächtigen Schrecken hatte. Das warihm nicht vorzuwerfen. Aber wer steigt schon mühsam auf eine Brücke, um sich vor einen Zug zu werfen?
    Die Mauer war zu hoch für einen Sprung, Halt nicht zu finden. Als der Schaffner ein Seil an einem Baum befestigte und Laurenti sich daran zur Straße hinunterließ, blendete ihn der Lichtkegel der Stablampe des Lokführers. Dann zwängte er sich durch die niedrige Hecke und beugte sich zu der Person hinunter. Er hob den Mantel an und sah endlich das Gesicht: Der Mann mit dem schweren Koffer. Aber hatte er den Koffer nicht draußen auf dem Bahnsteig von San Donà gesehen? Laurenti suchte vergebens nach der Halsschlagader und hielt irritiert inne. Er spürte einen Draht, tastete weiter und begriff schlagartig, daß dieser Mann auf keinen Fall unter den Zug geraten war. Die Wunde im Gesicht des Toten konnte nur

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