Die Ruhe Des Staerkeren
vom Aufprall auf dem Asphalt stammen. Laurenti durchsuchte die Taschen des Mantels und des Jacketts, beförderte einen Schlüsselbund sowie ein Mobiltelefon älteren Baujahrs hervor und schließlich eine einfache, stark abgenutzte Brieftasche, die fünfundfünfzig Euro enthielt, die Fahrkarte nach Triest, einen zerknitterten Lieferschein sowie den Personalausweis. Jetzt hörte er die Sirene des Krankenwagens und gleich danach die seiner Kollegen, die heute Nacht Streifendienst hatten. Kurz darauf leuchteten die Scheinwerfer der Einsatzfahrzeuge die Szenerie aus.
»Wie komm ich da bloß wieder rauf?« fragte er sich. Er mußte unbedingt den Waggon in Augenschein nehmen und auf Kampfspuren untersuchen. Und vielleicht war der Koffer ja doch noch dort, und er hatte sich nur getäuscht. Eine mysteriöse Angelegenheit. Zweifelnd schaute er die Mauer hinauf, an der noch immer das Seil hing, an dem er sich heruntergelassen hatte.
*
Als Laurenti sich endlich gegen drei Uhr früh von einem Streifenwagen auf der Küstenstraße absetzen ließ und die Treppen durch den Garten hinunterging, war das Haus immer noch hell erleuchtet. Er hörte Lachen aus dem Salon, als er die Tür aufschloß. Die ganze Familie war noch wach, und selbst seine alte Mutter saß trotz der langen Bahnreise quietschfidel in einem Sessel und erzählte Geschichten. Marco war erst kurz vor seinem Vater nach Hause gekommen. Seit er im »Scabar« arbeitete, in Triests berühmtestem Restaurant, war eigentlich er stets der letzte, der schlafen ging. Und morgens kam er natürlich stets zu spät aus der Falle, um dann wie ein Schlafwandler und mit struppigem Haar zur Kaffeemaschine zu watscheln – doch das war schon vor seiner Zeit in der Gastronomie so gewesen. Patrizia Isabel, seine Lieblingstochter, sprang aus dem Sessel auf und umarmte Laurenti stürmisch. Seit den Sommerferien war sie nicht mehr nach Hause gekommen, doch jetzt würde sie über Weihnachten und den Jahreswechsel bei ihnen bleiben, worüber Laurenti sich besonders freute.
»Endlich«, rief sie und wollte sich nicht aus der Umarmung ihres Vaters lösen. Laurenti war gerührt, mit Patrizia verband ihn eine Komplizenschaft, die er weder mit Marco fühlte noch mit Livia, der Ältesten der drei Geschwister, die erst am nächsten Tag aus München kommen sollte, wo sie in einem High-Tech-Unternehmen der papierverarbeitenden Industrie arbeitete.
»Laß los, Patrizia, deine Großmutter enterbt uns alle, wenn ich nicht auch sie begrüße«, sagte Laurenti und strich ihr durch das pechschwarze, dicke Haar, das sie eindeutig von ihm hatte.
»Was gibt’s bei mir schon zu erben, Proteo«, rief seine Mutter. »Meine Rente reicht kaum länger als zweieinhalb Wochen im Monat, seit alles so teuer geworden ist, und das Ersparte braucht sich immer mehr auf. Ich hab gerade erzählt,wie du zur Welt kamst, mein Sohn.« Sie küßte ihn auf die Wange.
»Beinahe hätten sie dich weggeworfen«, prustete Marco los, »die konnten das Kind nicht von der Nachgeburt unterscheiden.« Er fing sich einen sträflichen Blick Lauras ein. In diesen Dingen verstand sie keinen Spaß, nachdem sie selbst drei Kinder zur Welt gebracht hatte.
»Sehr witzig«, sagte Laurenti. »Ich will ein Glas Wein, bevor ich zu Bett gehe. Ich hatte mich schon darauf gefreut, daß ihr längst schlafen seid und ich mich nach einem solchen Tag endlich entspannen kann.«
»Vor dem Fernseher wärst du eingeschlafen«, spottete Marco weiter. »So wie immer.«
Proteo Laurenti überging den Kommentar und goß sein Glas voll. »Morgen früh um halb neun hab ich bereits die erste Sitzung.«
Er erzählte von seiner Rückreise und dem Toten kurz vor der Einfahrt nach Trieste-Centrale. Er hatte den schichtführenden Beamten informiert, daß der Mann von den Kollegen in Mestre kontrolliert worden war, und darum gebeten, bei ihnen die nötigen Informationen einzuholen. Außerdem sollten seine Leute alle Reisenden befragen und ihre Personalien aufnehmen. Der Zug mußte durch richterliche Anweisung beschlagnahmt und von der Spurensicherung untersucht werden. Über die Ergebnisse würde er sich dann gleich am nächsten Morgen informieren lassen. Den Fall würde er selbst übernehmen, wenn er schon in seiner unmittelbaren Nähe passiert war.
»Auch deine Tochter hat Neuigkeiten«, sagte Laura schließlich.
Laurenti runzelte die Stirn.
»Ach, laß doch, Mamma, das hat Zeit bis morgen. Papà ist hundemüde. Sonst freut er sich gar nicht«, winkte
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