Die Ruhelosen
zusammen wie ein Mobile«, fliege!, »sie gehören auch zusammen, Aude, alle vier.«
Irgendwann waren dann die Knöchel dran, die Schienbeine und die Schienbeinköpfe, die Knie und so weiter. Lorine arbeitete sich stetig und apodiktisch von unten nach oben, von links nach rechts durch Audes Körper – hindurch!, es ist, als wäre sie in mir drin und werkelte an meinen Gelenken von innen nach außen, schoss es Aude wie ein warmer Strahl der Erkenntnis durch den Kopf, der noch immer irgendwo ruhte, dessen Auflegstelle sie aber nicht mehr erkannte, weil ihr so verschwommen war. Ihr Kopf freute sich den wandernden Fingern und Händen entgegen.
»Wenn dir eine Bewegung weh tut, dann geht es nicht darum, diese Bewegung auf Biegen und Brechen herbeizuführen oder durchzuexerzieren. Es geht darum, alternative Bewegungsabläufe für dich zu definieren, die zielführend und dabei schmerzfrei sind. Und das Schöne daran ist: Das gesamte Wissen darum steckt bereits in deinem Körper drin, Aude.«
In meinem? Auch?, fragte sich Aude im Dämmerzustand des Genießens.
»In deinem auch«, festigte Lorine ihre Aussage mit Bestimmtheit.
Schultern, Arme, Hände, Finger, Hals und Kopf nahm Aude wie weit entfernt wahr, und erst als Lorine Audes Haarsträhnen mit gespreizten Fingern den Kopf entlang nach oben kämmte und jede Strähne bis an ihr Ende berührte, so dass es ein leichtes Zupfen und Ziepen auf der Kopfhaut verursachte, ließ sich Aude von der liebevollen Stimme ihrer Schwester wieder in den Raum zurückführen. Lorine sagte: »Du musst das Bild, das du von dir hast, verändern«, und dann nach zwei, drei weiteren Kämmbewegungen, »du darfst das Bild, das du von dir hast, verändern, Aude. Immer wieder. So lange, bis es stimmt.«
Als sich Aude aufsetzte, reflektierte ihr inneres Glühen auf Lorines Gesicht. In ihren Augen las sie, dass alles in Ordnung mit ihr war, ja, mehr noch, perfekt. Und wie es immer sein sollte, grad so, wie es eben war. Vorsichtig bewegte sie ihren Kopf von links nach rechts und von rechts nach links, dann weitete sie den Versuchsradius aus, ließ die Drehung durch ihren ganzen Körper gehen, horizontal, vertikal, spielte mit Spiralen, und Lorine lachte: »Na, erinnert sich dein Körper wieder an seine Beweglichkeit?«
Kuckuckskind
Zürich, 1995
Aurelio Senigaglia sah seine Mutter mit anderen Augen. Aurelio hatte seinen eigenen Blick, und das war ein Blick fürs Wesentliche. Er wusste nichts von Brutschmarotzerei und Wirtsvogelarten, er sah seine Mutter nicht als schwarze Rabenkrähe, er sah die Stummheit in ihrem Blick und wusste, dass sie ihn liebte.
Er war ein starkes Kind. Beinahe ein autarkes, wäre da nicht das feste unsichtbare Band, das Mutter und Sohn zusammenhielt. Mochte sein, dass seine Tante Lorine ab und zu verärgert schnatterte, wenn ihn Aude wieder einmal zu ihr bugsierte, ihn bekümmerte das nicht. Er hatte bald verstanden. Seine Mutter war am glücklichsten unterwegs. Am meisten in sich verankert und zu Hause, wenn sie fern davon war. Und oft nahm sie ihn ja mit, tage- und nächtelang auf stille Pirsch durch die Berge, an Seeufern und Flussläufen entlang, besonders ans Rheindelta am östlichen Bodensee. Er bekam sein Teil Liebe von ihr, indem sie ihm die Natur nahbrachte, den Boden, das Wetter, das Land. Mit seinen acht Jahren wusste er mehr über den Lebenskreislauf als seine Lehrerin, und er verstand vor allem mehr über die Liebe, als so mancher Erwachsene es von sich glaubte.
Nur einmal spürte er einen Bruch in diesem Band, so als ob man altes Leder zu stark gebogen hätte. Das war, als er sie nach seinem Vater gefragt hatte. Nur ein einziges Mal, da war er etwa fünf gewesen. Aude hatte ihn schweigend angeschaut mit Millionen von Buchstaben hinter der Stirn und einem Wort, das sich in ihrem Mund formierte undden Weg hinaus nicht fand. Danach hatte er angefangen zu warten.
Wenn er auch nicht wusste, wer sein Vater war, in Jetmir, Lorines Mann, hatte Aurelio eine Vaterfigur gefunden. Unter Lorines Fittichen, in ihrem Nest, fühlte er sich wohl wie in einem Zweitzuhause. Sie machten Kissenschlachten, malten sich gegenseitig das Gesicht bunt, feierten Weihnachten, Ostern, Fasnacht auch, sangen Lieder und schauten fern.
Jetmir brachte Aurelio Federballspielen bei, und die kleine Cousine Fatime klatschte begeistert in die Hände bei jedem Schlagabtausch, der ihnen gelang.
Lorine hatte immer etwas aufgeraute Hände, aber Aurelio liebte die Finger der Tante durch sein
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