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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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    Dóra blickte in ihre Hände. Spuren von Stacheldraht, dersich in ihr Fleisch verbissen hatte, als sie hingefallen war, kurz bevor sie ein österreichischer Bürger am Oberarm wieder hoch und auf die Beine gezogen hatte.
    Die Wut ist erst später gekommen. Als Ungarn ungeachtet der massiven Proteste von Seiten der Führung der DDR die Grenze zu Österreich vollständig öffnete, ging Dóra erneut nach drüben. Als sie im Freibad war, nur wenige Hundert Meter entfernt von ihrem Ungarn, sah sie nach Sopron hinüber. Sie sah ihr Städtchen, die Kirchtürme, den Wald, sah alles, und alles war so nah. Da kochte es mit Urgewalt in ihr hoch, und sie flüsterte: »Die ganze Zeit habe ich so nahe an der Grenze gewohnt und es nicht gewusst; wenige Schritte weiter, und drüben war die Freiheit.«

Teil 6
Zugunruhe. 1990–2010
    Sie sind die Ruhelosesten der Ruhelosen: die Seevögel. Einsam die einen, in Riesenschwärmen die andern, zigeunern sie kreuz und quer über die Ozeane auf der Suche nach einem Fisch.

Rabenmutter
    Zürich, 1990
    »Du nicht?«
    »Nein, ich glaube nicht. Aber bei mir war das auch anders damals. Ich war ein anderes Kind als du.«
    »Freudig.«
    »Immer!«, Lorine lachte ein herzliches Lachen, das ihr Gesicht in zwei helle Orangenhälften schnitt und Fröhlichkeit verspritzte. »Ich war die Lustige und du die Trübe. Ich die Laute und du die Stille.«
    »Ich war nicht trüb«, protestierte Aude, »aber das ist genau das, was ich vorhin gemeint habe: Ich wurde nur dann geliebt, wenn ich traurig war, wenn mir das Leben ein Unrecht getan hatte. Als ob Mama nur das Triste gernhaben könnte.«
    »Das stimmt doch nicht!«
    »Aber für mich fühlte es sich so an. Du hattest den Platz der Lebendigen, ich den der … Begrabenen, oder der Verschollenen, irgendwie. Mama war immer eine gute Trösterin. Aber auf mein Selbstbewusstsein reagierte sie mit Befremden.«
    »Wann zum Beispiel?«
    »Immer.«
    »Aude, im Leben gibt’s kein Immer.«
    »Also, als ich zum Beispiel so klar wusste, dass ich Biologie studieren wollte, da war’s, als ob zwischen uns etwas zerbrach.«
    »Vielleicht weil Mama vor allen Studierten eine absurde Ehrfurcht hat.«
    »Ja, das auch. Als ob sie das dumm machen würde, wenn ich mich bilde!«
    »Aber du legst auch immer gleich jedes Wort auf die Goldwaage …«
    »Muss ich doch! Woran sonst sollte ich mich halten?«
    Aude blickte sich im neuen Behandlungszimmer ihrer Schwester um. Zwei Massageliegen unterschiedlicher Höhe, durch einen weißen Vorhang abtrennbar, ein schmales Bücherregal, ein großer Topf mit einer wuchtigen Yuccapalme, ein persischer Teppich auf dem Boden und unzählige Seidentücher an den Wänden, die sich willenlos vom Wind lüften ließen, der durch die Lamellen lümmelte.
    »Aber, weißt du, Lorine, was ich nicht verstehe: Du hast dich doch auch weitergebildet? Bist Feldenkrais-Pädagogin geworden, das ist doch auch so etwas wie exklusives Wissen. Warum veranstaltete sie bei dir nie so einen Zinnober?«
    »Ach, Aude.«
    »Nein, wirklich, ich will das jetzt wissen. Ich habe deswegen früh angefangen, ihr gegenüber mit meinen Empfindungen zu geizen. Geredet habe ich ja ohnehin fast nichts. Und wenn, dann nur mit dir.«
    »Flüsternd …«, Lorine lachte.
    »Ja, flüsternd. Nur du hast mir damals Sicherheit geben können. Papa hat ja immer irgendein Projekt gehabt, eine Story verfolgt. Und Mama – hast du denn ihre abgrundtiefe Einsamkeit nie gespürt?«
    »Doch, ja, vielleicht. Aber das heißt ja nicht, dass ich sie zu meiner machen musste.«
    »Nein, natürlich nicht. Aber in mir haben sich, wie soll ich sagen, die Sedimente einer Traurigkeit, einer Verzweiflung angesammelt und abgelagert, die von einem Leben allein gar nicht stammen können.«
    Lorine hob eine Augenbraue, ihre Beweglichkeit kannte wirklich keine Grenzen. »Wirst du jetzt esoterisch?«
    »Nein! Aber ich glaube, weil ich so vieles gespürt und aufgesogen habe, war es zu heftig für mich. Ich konnte es nicht artikulieren.«
    »Und deine Vogelstimmen? Die hast du ja auch in dich aufgesogen?«
    »Das war etwas anderes. Es war wie eine Sprachmelodie voller Ordnung und Richtigkeit. Korrektheit. Für mich war es, als ob ich intuitiv verstanden hätte, was sich die Vögel gegenseitig und der Welt mitteilten. Glasklar und ohne Falsch. Denn, ehrlich, Lorine, obwohl Mama und Papa verheiratet geblieben sind: Eine

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